Globart - © Foto: Stift Melk, Philipp Nicolai Krummhübler (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger)

Ilija Trojanow: Alle Wege führen zu Utopia

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Der Autor ist leidenschaftlicher Utopis und Weltbürger. 2023 erscheint sein Roman "Tausend und ein Morgen" bei S. Fischer.

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Der Autor ist leidenschaftlicher Utopis und Weltbürger. 2023 erscheint sein Roman "Tausend und ein Morgen" bei S. Fischer.

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Die Welt wird nie gut, aber sie könnte besser werden. — Carl Zuckmayer

Utopia ist viel mehr als eine Insel der Seligen, auf der Frieden und Gleichheit herrschen und Bildung als höchstes Gut gilt. Utopia ist die Vorwegnahme von Veränderung im Reich der Imagination, Utopia provoziert das freiste Denken, um Alternativen zu ersinnen.

Insofern ist der seit 1989 so oft verkündete „Untergang der Utopien“ ein Totengräbergesang, der alle Träume begraben will, um universelle Friedhofsruhe durchzusetzen. Ideologisch begleitet von der unbeweisbaren Behauptung, die Schrecken des 20. Jahrhunderts wären die Folge utopischen Denkens, obwohl man mit besseren Argumenten althergebrachte Missstände wie fanatischen Nationalismus, Rassismus, Nepotismus und Imperialismus für die Schrecken des Staatsterrors verantwortlich machen könnte.

Die Flaute radikalen Denkens konnte nur vorübergehend sein, und heute, da Überwachungsstaat, oli-garchische Strukturen, destruktive Finanzmärkte und vieles Kriminelle mehr Gegenentwürfe geradezu provozieren, braust der utopische Wind wieder auf. Akut wird die Notwendigkeit spürbar, geistig jenseits eines System zu blicken, das Eigennutz als wirtschaftlichen Motor einsetzt, zum Nutzen weniger, zum Schaden vieler, auf Kosten zukünftiger Generationen.

Was seit Anbeginn der Moderne utopisch, sprich unrealisierbar, genannt wird, war einst gelebte Wirklichkeit. Die meiste Zeit lebte die Menschheit nämlich in herrschaftslosen Gesellschaften, in denen es keine institutionalisierte Autorität gab, sondern die Position des Anführers, der Anführerin an die Weiseste, den Intelligentesten oder die Charismatischste ging. Ausgrabungen in China, Niger, Pakistan, Peru und Mali belegen, dass sich in den frühesten Zivilisationen keine Spuren zentralisierter Macht finden – obwohl es bereits Arbeitsteilung gab. In einigen der ältesten religiösen Traditionen, etwa im Judentum oder im Taoismus, wird das Gemeineigentum (heute würde wir Allmende oder Commons sagen) propagiert.

Epochen geistiger Blüte brachten auch eine Hochkonjunktur an Utopien hervor: das antike Griechenland, die Renaissance, die Industrialisierung. Sklaverei, Feudalismus, Absolutismus, staatliche Willkür wurden zuerst im Kopf abgeschafft, bevor sie in der Realität (teilweise) überwunden wurden. Immer wieder gab es Momente in der neueren Geschichte, das Miteinander radikal anders zu gestalten. Etwa die von Bauern, Kaufleuten und Handwerkern getragene Loslösung der britischen Kolonie in Amerika — diese Revolution führte vorübergehend zu einer Föderation selbstverwalteter Gemeinden, in denen vieles, wenn auch nicht alles zum Guten stand.

Die Träume von Gleichheit und Gerechtigkeit befinden sich gegenwärtig im Tiefschlaf, im Wachsein dominiert die Ersatzdroge Konsum. Unter dem Druck, funktionieren zu müssen, um konsumieren zu können, geht der Blick fürs visionäre Ganze leicht verloren. Anstatt uns zu fragen, ob Demokratie überhaupt mit Vermögenskonzentration vereinbar ist, überlegen wir, wie wir ein wenig umverteilen sollen.

Eine Weltkarte ohne Utopie ist keines Blickes wert, denn sie unterschlägt die Küste, an der die Menschheit immer wieder anlandet. Und wenn die Menschheit dort angekommen ist, schaut sie in die Ferne, und wenn sie ein besseres Land sieht, setzt sie die Segel. Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien. — Oscar Wilde

Eine weitere Utopie zu entwickeln, wie Menschen jenseits von Ghettos und Eingrenzungen kreativ zusammenwirken können, wie ein gerechtes Wirtschaften umgesetzt werden könnte – verknüpft mit der Konfluenz, in der sich die verschiedenen Kulturen befruchten – ist unabdingbar. Und noch nie war es so leicht wie in den Zeiten des Internets, diese Vision mit Millionen Menschen zu teilen. Der erste Grundstein einer neuen Utopie ist übrigens der Glaube, dass eine Alternative nicht theoretische Konstrukte, sondern reale Optionen darstellt. Der zweite Grundstein wird zum Pflasterstein der Wegbereitung, da jeder Utopie geht konkretes Handeln voran. Sie beginnt im Kleinen, in Netzwerken oder Tauschbörsen, in denen die Währung nicht in Euro, sondern etwa in Zeiteinheiten bemessen wird.

Trotz eines Systems, das Gier belohnt, erleben wir solidarisches Handeln. Wir benötigen Utopien, denn sonst droht die Hoffnungslosigkeit, und die ist — wie Karl Jaspers schrieb — die vorweggenommene Niederlage.

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