Versunkener Sommertag

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"Ein langer Sommer": Eine Liebesgeschichte der Nachkriegszeit für einen heutigen Sommertag. heute.

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"Ein langer Sommer": Eine Liebesgeschichte der Nachkriegszeit für einen heutigen Sommertag. heute.

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Ein langer Sommer" ist keine große Literatur, aber geschickt gebaut, eine private Liebesgeschichte, mit der man sich gern einen Sommertag beschäftigt, in hochgespannter Situation. Der Autor entführt uns ins Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg und hilft uns, Umbrüche zu verstehen, die Amerika bis heute prägen.

Der Krieg ist gerade 43 Monate her, täglich werden Tote von Europa und den Kriegsschauplätzen im Pazifik nach Amerika gebracht, um in heimatlicher Erde endgültig bestattet zu werden. Das Leben geht weiter in der amerikanischen Kleinstadt Owosso. Die Lücken, die der Krieg in die Erinnerung und beim Betrachten der Schulfotos gerissen hat, werden durch die Aufschriften auf Denkmälern aufgefüllt. Einige Bewohner des Orts leben weiter in und mit der Vergangenheit. Jane Herriks zum Beispiel, die den Verlust ihres Sohnes Arnie nicht verkraften kann und ihre eigene Techniken gefunden hat, um weiterzuleben: "Jane lebte von Jahrestagen. Sie kamen mit der gleichen Regelmäßigkeit wie das Essen im Krankenhaus - verlässlich, unausweichlich und freudig erwartet. Düstere Jahrestage ebenso wie glückliche, Daten die nicht nur Arnie betrafen, sondern auch die anderen toten Jungen: Geburt, Schulabschluss, Einberufung. Janes Jahr war so kompliziert wie der Kalender der katholischen Kirche, ein Ereignis nach dem anderen, dessen man gedenken musste, mit dem Höhepunkt direkt vor Weihnachten - der 17. Dezember ... an dem Arnie zusammen mit fünfundachtzig weiteren amerikanischen Kriegsgefangenen in Malmedy, Belgien, erschossen worden war."

Jane ist nicht die einzige, für die die Vergangenheit die eigentliche Gegenwart ist, da wäre zum Beispiel auch Horace Sinclair, der sich gegen Veränderungen im Stadtbild wehrt, um die vergrabene und begrabene Vergangenheit ruhen lassen zu können. Als eine umtriebige Gesellschaft aus dem Ort die Idylle zu bedrohen scheint, greift er selbst zum Spaten. "Die Vergangenheit war die in Ehren gehaltene und verbesserte Gegenwart, ein Gegenstand, der genausoviel Pflege brauchte wie das silberne Teeservice der seligen Mrs. Sinclair, das sie 1909 von ihrer Schwester aus Boston zur Hochzeit bekommen hatte." Doch die beiden sind nur Randerscheinungen in Owosso, das im Sommer des Jahres 1948 erst vor dem Sprung ins 20. Jahrhundert steht.

Es ist ein sonderbares Bild, das der Schriftsteller Thomas Mallon hier von einer Kleinstadt im Nachkriegsamerika entwirft. Geschichte kommt nicht bombastisch einher, sondern ist, wie vieles andere, in Nebensätzen und Zwischentönen präsent. Auch die Sieger beklagen ihre Toten. Banal vielleicht, doch die Einsicht dämmert erst langsam. Eigentlich handelt es sich ja um eine Liebesgeschichte.

Anne, die Buchhändlerin, ist in den Ort gekommen und schreibt an einem Buch. In der Kleinstadt kennt jeder jeden. "In Owosso sprachen sich die Dinge nicht nur herum. Anne hatte manchmal das Gefühl, dass sich unsichtbare Drähte durch die Bäume spannten, über die das Geflüster und die Gedanken der Einwohner, vielleicht sogar die Träume, von einem Kopf zum anderen übermittelt wurden." Boxkämpfe werden noch im Radio verfolgt, das Fernsehen ist eine Sache, die sich gerade in den großen Städten anbahnt, um es zu erleben, müssen einige Kilometer auf der Autobahn zurückgelegt werden.

In diesem ein bisschen aseptischen Klima, in dem Doris Day schon etwas ganz Heißes war, woran man sich ordentlich verbrennen konnte, hat Anne die Wahl zwischen dem Gewerkschafter Jack und dem Republikaner Peter. Wer wird gewinnen? Das ist in diesem Sommer nicht nur die Frage des Präsidenschaftswahlkampfes. Truman oder Thomas E. Dewey, ein Sohn der Kleinstadt, die hofft, mit seinem Sieg ins Zentrum der Welt zu rücken.

Die Menschen, die Mallon für uns in seinem Wochenberichten durchs Bild gehen lässt, hören viel über Politik und lieben sich - zumindest einige - unter Gewerkschaftsplakaten mit der Losung: "Hebt das Taft-Hartley-Gesetz auf!" Jenes Gesetz, das gegen das Veto von Präsident Truman 1947 verabschiedet wurde und eine wesentliche Verschlechterung für die Gewerkschaften gegenüber den Unternehmern bedeutete. Nähere Erläuterungen mag man vermissen, doch wer Geschichte erlebt, braucht keine Erklärungen. Leser können ja im Lexikon nachschlagen, wenn sie es genau wissen wollen.

Jack küsst Anne während einer Truman-Rede aus lauter Begeisterung. Die Pläne, in der Stadt eine Ehrenmeile für Dewey zu errichten, auf der die Lebensstationen des berühmten Sohnes von Owosso dargestellt werden sollen, sind Altpapier. Große Veränderungen kündigen sich an, doch nicht die Politik ändert die Gesellschaft, sondern die Mechanisierung, der Konsum und die Medienwelt werden es tun. Bei Mallon ist das alles im Embryonalzustand konserviert. Die Reden sind banal, Stehsätze, verschleiern die politischen Interessen, statt sie offenzulegen. So ist es eben im erlebten Augenblick.

"Ein langer Sommer" ist ein unpolitisches Buch, weil viel von Politik die Rede ist, und gleichzeitig ein politisches Buch, weil es sich um eine Liebesgeschichte dreht, Politik nur ein Element des Lebens ist und die Urteile darüber von derselben Art sind wie die Meinungen über eine Schauspielerin, die Anne mit Jack im Autokino gesehen hat: "Der Film war nicht sehr gut. Loretta Young. Ich kann diese eingefallenen Wangen nicht leiden."

Das politische Ergebnis am Ende des Sommers fällt knapp aus, ist aber klar, wer kennt heute noch Dewey, die Lexika kennen ihn auch nicht mehr. Die Wahl Annes fällt mehr als überraschend gegenläufig aus. Eine unpolitische Entscheidung - wie oft auch die Stimmabgabe bei Wahlen. Daneben passiert so allerlei im Ort, während Berlin aus der Luft versorgt wird und der Chefermittler des Senatsausschusses für unamerikanische Aktivitäten Verdächtige verhört. Tim Herrick entführt während einer Flugshow ein klappriges Flugzeug, um der Enge der Kleinstadt zu entfliehen - und dann doch zurückzukehren. Der Lehrer und Hobby-Astronom geht nach New York und kann dort seine in der Kleinstadt unmögliche Liebe zu Männern ausleben, freilich, wir schreiben das Jahr 1948, und vieles, was man heute sagen könnte, wird nur angedeutet. Mallon schafft es, eine Zeitstimmung der Beiläufigkeit aufzubauen, mit mehr als durchschnittlichen Akteuren.

Es gibt keinen Höhepunkt. Die Langeweile hat ein Zentrum: Owosso. "Annes Gedanken drifteten ab, als wäre sie woanders und würde das Gespräch mit Carol nur per Funk führen, während ein Teil ihrer Gedanken eine andere Richtung einschlug. 1990. Bis dahin war das Land zehnmal umgepflügt worden. Diese Wahlen waren ... eine selbstauferlegte regelmäßige Neudefinition, ein Aufbäumen der Geschichte, die sich trotz gelegentlicher Kriege zu Tode langweilen würde, wenn nicht alle vier Jahre eine neue Ära begann. Wie konnte es sein, dass das Land zehn Leben hatte, während ihr, hier an diesem Ort nur eines zugestanden wurde?"

Fazit: Leichte Sommerlektüre mit Zusatznutzen: USA-Reisende erfahren eine Menge über eine Zeit, in der Amerika seine Weichen stellte.

Ein langer Sommer. Roman von Thomas Mallon.

dtv premium, München 2000. 360 Seiten, brosch., öS 234,-/e 17,

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