Wie Recht ich doch habe! Das Vorurteil sei eine Mauer, gegen die man nicht ankommt, wusste schon Nestroy. Und was täten wir auch ohne unsere Zerrbilder, woher nähmen wir unser Selbstwertgefühl?

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"Das Vorurteil ist die hochnäsige Empfangsdame im Vorzimmer der Vernunft" (K. H. Waggerl). Wohl jeder ist dieser Dame schon einmal zum Opfer gefallen - oder aber hat ihre Dienste in Anspruch genommen. Um Entstehung, Schaden, Nutzen und den Abbau von Vorurteilen geht es in diesem Dossier. Einfach lesen anfangen - ohne Vorurteil! Redaktionelle Gestaltung: Wolfgang Machreich

Saupreiß japanischer, Finger weg!", herrscht die Standlerin auf dem Münchner Viktualienmarkt einen Koreaner an, der pralle Äpfel betastet. Ein klassisch-bayerisches Vorurteil: "Saupreiß" - ähnlich dem "Gscherten" in Wien. Gleichwohl verhielt sich diese Standlerin genetisch richtig. Fremdenscheu ist uns nämlich in die Wiege gelegt; Kinder kuscheln sich an die Mutter, falls ihnen Fremde zu nahe kommen - selbst wenn sie ihnen nie etwas angetan haben.

Wir suchen Sicherheit in der gleichgestimmten Gruppe, wenn Fremdes unsere Wertvorstellungen zu bedrohen scheint. Dann sind wir stark, geschützt vor unliebsamen Überraschungen - und auf bestem Weg zur ethnozentrischen Präpotenz. Dann ist der Kroate ein "Tschusch", US-Präsident Bush ein "Cowboy", Chicago die "Hauptstadt der Kriminellen" und der Italiener ein minderwertiger "Katzlmacher", einst so benannt nach den italienischen Scherenschleifern, die nicht Kätzchen machten, wohl aber auch "Gatzln" (Schöpflöffel) reparierten.

Die Fähigkeit zum Vorurteil lässt sich am Vermögen festmachen, die Umwelt unter verschiedenen Gesichtspunkten zu betrachten. Deshalb gilt auch als gebildet, wer beliebige Dinge von möglichst vielen Seiten zu analysieren versteht und (eher) keine nassforsche Meinung von sich gibt. Leider kommt dieser idealen Vorstellung das in die Quere, was die Wissenschaft als "angeborenes ästhetisches Vorurteil" bezeichnet. Dieses äußert sich in blitzartiger Selektion nach schön und hässlich. Schön, das heißt dann ebenmäßig, wohlgefällig, anziehend und vertrauenerweckend. Hingegen wirkt hässlich abstoßend, widerwärtig, gefährlich - wie die vermeintliche Verbrecherphysiognomie belegt. Die nächste Selektion fällt nach hell und dunkel. Jenes ist erfreulich, fröhlich, offen, einnehmend, dieses hingegen unheimlich, trist, abweisend, bedrohlich. Mithin kann hell das Schöne, hingegen dunkel die Hässlichkeit verstärken.

Grace Kelly und Quasimodo

Trotzdem ist der Mensch erstaunlicher Inkonsequenz fähig. Logischerweise steht Grace Kelly für hell und schön, der Glöckner von Notre Dame aber für dunkel und hässlich. Hingegen ist Grace Bumbry dunkel aber schön, und eine Vielzahl von hellen Straßenpassanten sind durchaus hässlich. Alarmierend ist die Steigerung dieser Typen: Hell und schön taugt für Idealisierung, dunkel und hässlich indessen für Diffamierung und Dämonisierung.

Nicht genug damit. Europäer sind an Menschen mit offenen Augen gewöhnt, man kann ihnen in die Augen (und deshalb angeblich sogar in die Seele) schauen. Große Augen gelten als besonders schön. Homer himmelte deshalb die Göttermutter Athene als "kuhäugig" (boops) an. Und Walt Disney unterstrich mit großen Augen das Baby-Appeal, das in uns seit jeher Zuneigung für junge Lebewesen weckt. Hingegen verdeckt die Mongolenfalte das Auge vieler asiatischer Völker so sehr, dass die Schlitzaugen keinen Blick in die Seele zulassen, Misstrauen wecken und diese Menschen in die Nähe von Schlitzohren gerückt werden.

Solche biologischen Fakten überdeckt noch ein Raster von "Üblichkeiten", die Menschen und Gruppen charakterisieren. Wir werten adrette Kleidung, Deo, bescheidene Selbstsicherheit oder gute Umgangsformen als positiv, nicht hingegen abgerissenes Gewand, schmutzige Fingernägel und unangepasstes Verhalten. Das erklärt hinlänglich den sozialen Status von Yuppies und Sandlern.

International haben solche Selektionen gravierende Folgen. Beispielsweise gelten die vielen Bücklinge der Japaner als Anbiederei, solange man nicht weiß, dass damit der Ranghöhere geehrt wird. Schwarzafrikaner wiederum hält man für primitiv, weil sie in Lehmhütten hausen. Wer weiß schon, dass Lehmhütten in der ärgsten Hitze noch kühl sind. Für ausnehmend blöd schätzt man die Inder ein, weil dort Millionen heilige Kühe auf den Straßen herumlungern, den Verkehr stören und nicht geschlachtet werden, obwohl Millionen Inder Hunger leiden. Darf man ihnen ankreiden, dass sie als Hindus an die Seelenwanderung glauben und einer Kuh ehrfürchtig begegnen, weil darin die Seele des Urgroßvaters leben könnte?

In Summe stützen bereits Äußerlichkeiten Vorurteile, die in banalen Fakten wurzeln: Mangelnde Information und fehlende Bereitschaft, den Stand der eigenen Kenntnisse zu erweitern oder gar in Frage zu stellen. Dagegen spricht besonders die so genannte Erfahrung: Ich wurde in Italien bestohlen, also sind die Italiener Diebe. Mich hat ein Grieche übers Ohr gehauen, also sind die Griechen Betrüger. Mir hat ein Schwede beim Entziffern der Speisekarte geholfen, daher sind Schweden nette Leut'. In dieselbe Kategorie fallen auch Animalisierungen: Der "russische Bär", der "chinesische Drache" und der "gallische Hahn" punzieren gleich ganze Völker als gefährlich, bedrohlich oder lächerlich.

Biertischluftraum

Somit entpuppt sich das Vorurteil als Überzeugung ohne Sachkenntnis. Die verbalen Gefechte im Luftraum über den Biertischen liefern dafür lehrreiche Beispiele. Dabei fällt das Stereotyp auf, dass die Besserwisser alle Informationen abschmettern, die nicht ihren Vorstellungen und starren Wertmaßstäben entsprechen. So taugt das Vorurteil auch als Methode, sich gegen alles abzuschirmen, was die Erfahrung, die eigene Meinung und das Selbstwertgefühl stört. Damit erweist sich das Vorurteil als Autoimmunisierung gegen unliebsame Fakten. Dieser Selbstschutz lässt nur Informationen durch, die das bestehende Weltbild stützen. Metternich wird ein Satz zugeschrieben, der diese Form der Realitätsverweigerung auf die Spitze treibt: "Lieber Gott ich danke dir täglich, wenn ich sehe, wie Recht ich habe und wie Unrecht alle anderen."

Umkehrung des Vorurteils

Hinter dem Vorurteil steckt das Bedürfnis ethnischer Gruppen nach Sicherheit und Anerkennung. Daraus resultiert die Abgrenzung von Fremdem, dem dann zur Selbsterhöhung auch noch Minderwertigkeit angedichtet wird. Beispiel Slawen: Die österreichisch-ungarische Monarchie wertete die Slawen ab. Noch heute erschwert uns diese Mischung aus Vorurteil, Kulturpräpotenz und Rassismus den Zugang zur slawischen Kultur - Musik ausgenommen. Das zeigt sich darin, dass an kaum einem österreichischen Gymnasium eine slawische Sprache Pflichtfach ist.

Eine geradezu klassische Umkehr des Vorurteils soll hier nicht fehlen. In den Katastrophen von 1918 und 1945 brauchte die österreichische Seele Trost. Erst lieferte Hofmannsthal Balsam für Österreichs wundes Selbstwertgefühl, als er Salzburg wegen der Festspiele als "Herz vom Herzen Europas" feierte. 1945 nahm Preradovi´cs Bundeshymne dieses unrealistische Leitmotiv wieder auf: "... liegst dem Erdteil du inmitten, einem starken Herzen gleich". Wir waren also trotz Elends doch noch wer.

Ewiger Friede ohne Vorurteil?

Die Mischung von ethnischen Üblichkeiten, Besserwisserei und Sachunkenntnis sowie die Selektionspaare schön/hässlich und hell/ dunkel können in Krisen unterschiedlicher Art die Gegenüberstellung von Wir/die Anderen sehr schnell zum Gegensatzpaar Freund/ Feind verschärfen. Wir haben Recht, sind gut, edel, friedfertig - die haben Unrecht, sind hinterhältig und gefährlich. Das Christentum bietet das beklemmende Beispiel dafür, dass ein dogmatisiertes Freund-Feind-Schema zwei Jahrtausende lang durchzuhalten ist: Alle guten Verheißungen aus dem Alten Testament wurden auf die Christen gemünzt, alle schlechten auf die Juden, die "Gottesmörder".

Was aber täten wir ohne Vorurteile, ohne die Zerrbilder im Kopf? Woher nähmen wir Prügelknaben, Ausreden für Fehlleistungen oder den vermeintlichen Selbstwert? Bräche in einer Welt ohne Vorurteil nicht der ewige Friede aus, den doch immer nur der andere stört? Nestroys Befund von 1843 stimmt also noch immer: "Das Vorurteil ist eine Mauer, von der sich noch alle Köpf, die gegen sie ang'rennt sind, mit blutige Köpf zurückgezogen haben."

Der Autor ist freier Publizist.

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