Víctor Jara-Chile-Putsch - © Foto: APA / AFP / Claudio Santana

Chiles 11. September - und wir

19451960198020002020

Wenige Tage nach dem Militärputsch vom 11. September 1973 wurde der chilenische Liedermacher Víctor Jara ermordet. Vor wenigen Tagen - ein halbes Jahrhundert später - wurden seine Mörder rechtskräftig verurteilt. Ein persönlicher Blick auf die Ereignisse von damals – und ihre weitreichenden politischen und ökonomischen Folgen.

19451960198020002020

Wenige Tage nach dem Militärputsch vom 11. September 1973 wurde der chilenische Liedermacher Víctor Jara ermordet. Vor wenigen Tagen - ein halbes Jahrhundert später - wurden seine Mörder rechtskräftig verurteilt. Ein persönlicher Blick auf die Ereignisse von damals – und ihre weitreichenden politischen und ökonomischen Folgen.

Werbung
Werbung
Werbung

Unter dem Titel „Chile und wir“ habe ich vor 35 Jahren im Wiener Tagebuch den Ausgang des Referendums vom 5. Oktober 1988 kommentiert, bei dem die chilenische Bevölkerung sich trotz einer monströsen Angstkampagne gegen den Fortbestand der Pinochet-Diktatur ausgesprochen hatte.

Chile, das stand für einen demokratischen Weg zum Sozialismus, für die Regierung der Unidad Popular, in der alle progressiven Strömungen vertreten waren, für die Agrarreform und die Verstaatlichung der Kohle- und Kupferminen ebenso wie des Telefon- und Rüstungskonzerns ITT; Chile, das war auch die tägliche Suppe für die Armen, der Gesundheitsposten in jeder población, die ungeheure Aufbruchsstimmung, die sich in zahl-
losen künstlerischen Initiativen in den Fabriken, Armenvierteln und landwirtschaftlichen Kooperativen des Landes äußerte.

Und wir, damit war eine christlich inspirierte oder marxistisch gebildete Linke gemeint, die vom Militärputsch in Chile, am 11. September 1973, mehr erschüttert wurde als von jedem anderen politischen Ereignis in den Jahren davor oder danach: weil das, was General Augusto Pinochet auf Betreiben der US-amerikanischen Regierung und mit Hilfe nationaler Unternehmensverbände und Mediengruppen zunichte gemacht hatte, für uns weiterlebte, im Untergrund, im Widerstand, im Exil und in einer ersehnten Gegenwelt. Wir brauchten, schrieb ich in der Rückschau auf die Siebzigerjahre, paradoxerweise das besiegte, zerstörte Chile der Unidad Popular, um mit dem Widerspruch zurechtzukommen, dass wir hierzulande von unseren potenziellen Bündnispartnern als Feinde oder Spinner angesehen wurden: El pueblo unido jamás será vencido; aber das Volk bei uns – wo war es und was wollte es? Den Sozialismus sicher nicht; seine Konzepte nur dann, wenn sie individuelle Bereicherung versprachen.

Pinochet und die Chicago Boys

Nun, fünfzig Jahre nach dem Sturz der Regierung Allende, muss ich an das Wort von der Zeitenwende denken, die der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz auf den Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine datiert hat. Aber die wirkliche Zeitenwende begann gleich nach dem Putsch in Chile, wo Pinochet alle wichtigen Ministerien den Chicago Boys überließ, die die wirtschaftsliberalen Doktrinen Friedrich von Hayeks und Milton Friedmans ohne Rücksicht auf Verluste in die Tat umsetzten. Von Chile aus eroberte der Monetarismus den ganzen Kontinent und schwappte, etwas zeitverzögert, auf die anderen Erdteile über. Schrecklich daran waren und sind nicht nur die um sozialen Ausgleich verlegenen wirtschaftlichen Maßnahmen – es ist auch das Unheil, das die neoliberale Ideologie in kultureller Hinsicht anrichtete und weiterhin anrichtet, indem sie Solidarität, überhaupt jedes Bemühen um Gemeinschaftlichkeit auszulöschen trachtet.

Im Chile der Unidad Popular hatte dieses Bestreben seinen künstlerischen Ausdruck in der Nueva Canción gefunden, einer Bewegung, die autochthone Traditionen mit politischem Engagement und musikalischen Einflüssen aus ganz Lateinamerika verband. Einer ihrer bekanntesten Vertreter war Víctor Jara, dessen Lieder von Sängerinnen, Sängern wie Mercedes Sosa, Joan Báez, Bruce Springsteen oder Joan Manuel Serrat in die ganze Welt getragen wurden. Jara war auch eines der ersten Opfer der Pinochet-Diktatur; aber seine Mörder, sieben ehemalige Armeeoffiziere, sind erst Anfang letzter Woche, am 28. August, nach einem Urteil des Obersten Gerichtshofs rechtskräftig verurteilt worden. Tags darauf nahm sich einer von ihnen, Brigadier Hernán Chacón Soto, in Santiago das Leben, als ihn eine Polizeistreife zur Verbüßung seiner 25-jährigen Haftstrafe abführen wollte.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung