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Unser Dank an Lenin...

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Ein offener Brief Hans Weigels als "Geburtstagsgratulation" an Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin.

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Ein offener Brief Hans Weigels als "Geburtstagsgratulation" an Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin.

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Hochgeschätzter und sehr verehrter Herr Uljanow,

weil hundert Jahre seit Ihrer Geburt vergangen sind, feiert man Sie derzeit sehr intensiv, und erstaunlicherweise gerade dort am ausgiebigsten, wo man wirklich keinen Anlaß hat, Sie zu feiern und Ihnen dankbar zu sein. Was dankt Ihnen denn der Osten? Die Monarchie wurde nicht von Ihnen, sondern von ganz anderen Kräften gestürzt, die in Rußland ein demokratisches Regime aufbauen und mit dem Westen zusammenarbeiten wollten. Nicht den Zarismus, sondern die Demokratie haben Sie in Rußland zerstört. Allen Legenden zum Trotz haben Sie die Revolution nicht zum Sieg geführt, sondern die Revolution liquidiert. Wenn der Osten Sie in diesen Wochen feiert, dann feiert er Mord, Terror, Spitzelwesen, Diktatur, Mangel und eine permanente wirtschaftliche Misere, kurz: alles das, was Ihre Anhänger „Faschismus“ nennen. Begreife das, wer kann! Die russische Seele ist voll von Geheimnissen. Was wissen denn wir über den Kult dessen, was die schlechten Übersetzer als „Väterchen“ bezeichnen?

Wir aber, in unseren mehr oder weniger perfekten Demokratien, wir schulden Ihnen Dank. Denn wo wären wir heute ohne Sie, verehrter Herr Uljanow? Heil sei Ihnen! Hut ab vor Ihnen! Sie haben die westliche Demokratie ermöglicht, indem Sie die bis dahin einige und einheitliche Arbeiterbewegung gespalten haben! Niemand bestreitet, daß Sie ein Genie gewesen sind, ein großer Theoretiker, ein produktiver Schriftsteller, ein faszinierender Redner und vor allem ein einzigartiger Stratege und Taktiker der Revolution.

Es war im Sommer 1903, da hielt die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands“ in Brüssel ihren zweiten Parteitag ab. Es ging bei diesem Treffen begreiflicherweise drunter und drüber, doch ergab sich bei der ersten wichtigen Abstimmung eine klare Mehrheit von 28:23 Stimmen gegen Sie und Ihre Anhänger. Daraufhin lenkten Sie die Debatten so geschickt, daß etliche Ihrer Gegner zum Zeichen des Protestes den Saal verließen. Nach diesem Exodus ließen Sie wieder abstimmen, und nun stand es 23:21 zu Ihren Gunsten. Dies war die Geburtsstunde der „Bolsche-wiki“, das heißt „Mehrheit“, und Ihre Gegner hatten keine andere Wahl, als sich „Menschewiki“, Minderheit, zu nennen. Die russische Arbeiterbewegung war gespalten, die feindlichen Brüder reklamierten Marx und den Sozialismus für sich, Sie aber gingen unbeirrt Ihren Weg bis zur Gründung einer neuen Internationalen Bewegung namens Komintern im Jahre 1919.

Wären Sie damals in Brüssel erfolglos geblieben, hätte es unter den marxistischen Russen und auch in der internationalen Arbeiterbewegung weiterhin die bisherige Einheit gegeben, und Sie, als die stärkste Persönlichkeit, hätten der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung Ihren Stempel aufgedrückt. Es stand beispielsweise im November 1918 nach dem deutschen Zusammenbruch auf des Messers Schneide, ob die neue Republik sich im sozialdemokratischen oder im kommunistischen Sinn etablieren würde. Ohne die von Ihnen in Brüssel provozierte Spaltung wären die besonnenen Sozialdemokraten Ebert und Scheidemann wohl nicht durchgedrungen. Ohne Sie hätten wir Zentraleuropäer weit mehr zu sehen bekommen als die kurzen Räterepublikintermezzi in Budapest und München. Dank Ihnen haben wir seit 1917 den unschätzbaren Anschauungsunterricht des Leninismus an der Macht. Der Sozialdemokratie war in ihrem ersten, revolutionären Stadium die Macht ein Mittel zum Zweck, Ihnen war sie nie Mittel, sondern stets Zweck. Weil Sie die einheitliche Arbeiterbewegung gespalten haben, konnte siedie westliche Sozialdemokratie allmählich von der Opposition auf evolutionärem Weg zur Partnerschaft hin bewegen, sie wurde koalitions-, regierungs-, salonfähig, sie fügte sich sogar in das Zeremoniell von Monarchien. So hat sie im Rahmen demokratischer Legalität kampflos einen wesentlichen Teil dessen durchgesetzt, was Karl Marx gefordert hat.

Im Osten aber ist von der „Diktatur des Proletariats“ nur die Diktatur verwirklicht, im Osten werden die Menschen und die Völker geknechtet und gepeinigt, wie Karl Marx es sich nicht einmal in seinen schlimmsten Angstvisionen von der Herrschaft der Ausbeuter hätte träumen lassen. Darum denken wir, ob wir nun konservativ, liberal oder sozialdemokratisch sein mögen, heute und täglich in gerührter Anhänglichkeit an Sie, verehrter Herr Uljanow!

Ganz besonders weiß es das Proletariat, in dessen Namen Sie ja gewirkt haben, zu schätzen, daß bei uns seit sehr langer Zeit der Klassenkampf im Saal stattfinden kann.

Wenn ich Ihnen darum heute, frei von Angst, Not und Unterdrückung, als Mitgestalter und Nutznießer der sozialen Demokratie, meine Reverenz erweise, spreche ich nur aus, was viele Millionen ebenso sagen würden, wenn sie sich der historischen Zusammenhänge bewußt wären. Und könnte mir Karl Marx von dort, wo er sich jetzt befindet, über die Schulter schauen, er würde gewiß ehrlichen Herzens einstimmen in den tiefempfundenen von Herzen kommenden Dank

Ihres aufrichtigen

Hans Weigel

Der Autor ist Schriftsteller und Theaterkritiker.

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