Mauerfall - © APA / DPA / Wolfgang Kumm

Wildschwein per Expresspost

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Als die Mauer fällt, ist unsere Autorin elf Jahre alt. Zu Hause in Oberbayern bekommt sie davon nicht viel mit. Die Wende wird für sie trotzdem eine Rolle spielen. Ein Perspektivenwechsel.

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Als die Mauer fällt, ist unsere Autorin elf Jahre alt. Zu Hause in Oberbayern bekommt sie davon nicht viel mit. Die Wende wird für sie trotzdem eine Rolle spielen. Ein Perspektivenwechsel.

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Sommerferien 1988. Festung Rosenberg oberhalb der oberfränkischen Stadt Kronach. Mit einem Jugendsingkreis verbringe ich (Alter: zehn Jahre; Wohnort: Tattenhausen in Oberbayern) eine Woche in der Jugendherberge der Burg. Wir musizieren, machen Ausflüge ins nahe gelegene Fichtelgebirge. Einmal hält der Bus auf einem Hügel. Wir Kinder steigen aus und unsere Betreuer zeigen hinunter ins Tal. Es ist umringt von einem dichten Wald. Dort steht ein Haus. Der schmutzig graue Außenputz ist teilweise abgeblättert. Kein Mensch ist zu sehen. Ich schaudere. Ich fühle mich, als würde mir ein Blick in eine gruselige Geisterwelt gewährt werden. Tatsächlich aber ist es die Zonengrenze, die innerdeutsche Grenze, auf die wir hinüberschauen. Bis auf das heruntergekommene Gebäude gibt es landschaftlich keinen Unterschied zu der Seite, auf der wir uns befinden. Objektiv besteht kein Anlass, sich zu fürchten. Dennoch fühle ich mich, als blickte ich in einen Abgrund.

Die DDR. Ich weiß nicht viel über sie. Es handelt sich um ein Land, in das niemand hinein darf und aus dem niemand hinaus darf. So vereinfache ich das in meiner kindlichen Weltsicht. Und die Bewohner dort sollen weniger kaufen können als wir. Ich habe auch einige angsterregende Geschichten gehört. Zum Beispiel, dass man erschossen wird, wenn man von dort weg will. Das alles fällt mir jetzt ein, weil ich hier auf diesem Hügel stehe. Daher kommt wohl auch das ungute Gefühl in meinem Bauch.
10. November 1989. Erwachsene Frauen und Männer tanzen auf einer mit Graffiti beschmierten Mauer. Sie jubeln und umarmen sich, einige weinen. Fahnen werden geschwenkt. Dann wird das TV-Studio gezeigt. Die Kamera schwenkt von links nach rechts über die eingeladenen Talkgäste. Mehrere graumelierte Männer im Anzug sitzen in der Runde und reden aufgeregt miteinander. Im Hintergrund laufen die Bilder der jubelnden Menge. Ich schnappe Wortfetzen wie „unglaublich“, „sensationell“ oder „historisch“ auf. Auf den konkreten Inhalt der Debatte achte ich nicht. Ich bin enttäuscht. „Aus aktuellem Anlass“ sind heute alle Sendungen entfallen – auch meine Lieblingsserie „Full House“.

Tatsächlich befindet sich mein Land im Umbruch. Vor wenigen Stunden, am 9. November 1989, war in Ostberlin ein Delegierter des ZK (Zentralkomitee der Kommunistischen Partei) vor die Presse getreten, um die Öffnung der Grenzen bekannt zu geben. Von nun an sollte es jedem DDR-Bürger frei stehen, in den Westen zu reisen. Massenflucht und die Großdemonstrationen im Vorfeld sowie die Selbstisolation der Deutschen Demokratischen Republik hatten die Parteispitze zu dieser Entscheidung gedrängt.

Die Ereignisse überschlagen sich fortan. Im Bundestag in Bonn erheben sich die meisten Abgeordneten und singen „Einigkeit und Recht und Freiheit“. Tausende Ostdeutsche machen sich auf den Weg zur Grenze. Jubel, Chaos und ein Massenexodus sind die Folge. Wenig später fällt Willy Brandts berühmter Satz: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Die Deutsche Einheit ist in greifbare Nähe gerückt.

Kein Wunder also, dass im deutschen Fernsehen eine Brennpunktsendung nach der anderen ausgestrahlt wird (auch wenn es damals noch nicht so heißt). Fast schäme ich mich heute dafür, dass ich als Elfjährige die Situation nicht in ihrer ganzen Tragweite zu begreifen vermag. Ist mein Desinteresse tatsächlich nur dem Alter geschuldet? Oder liegt es daran, dass weder in meinem Elternhaus noch in der Schule der Ost-West-Konflikt ernsthaft thematisiert worden ist?

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