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Die große Kavalkade

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Ein Pferd, ein Pferd! Mein Königreich für ein Pferd!“ rief der verzweifelte Richard III. Anno 1485 in der Entscheidungsschlacht von Boswprth. Im heutigen England freilich braucht niemand lange nach einem geeigneten-Reittier zu suchen, denn die britische Insel ist — um das Shakespeare-Zitat abzuwandeln — wahrhaftig ein Königreich der Pferde.Wir Briten sind von einer, manchmal bis ins Exzentrische gesteigerten, Tierliebe, das weiß die ganze Welt, und wir haben genug Selbstironie, um über die Witze, die unserem Kult mit den Vierbeinern gelten, mitzulachen. Aber das Pferd hat einen besonderen Ehrenplatz in unserem Leben, und zwar schon seit undenklichen Zeiten. Davon zeugen die großen symbolischen Pferdedarstellungen, die in den verschiedensten Gegenden Englands wie gigantische Zeichnungen aus dem Grün der Hänge leuchten.

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Ein Pferd, ein Pferd! Mein Königreich für ein Pferd!“ rief der verzweifelte Richard III. Anno 1485 in der Entscheidungsschlacht von Boswprth. Im heutigen England freilich braucht niemand lange nach einem geeigneten-Reittier zu suchen, denn die britische Insel ist — um das Shakespeare-Zitat abzuwandeln — wahrhaftig ein Königreich der Pferde.Wir Briten sind von einer, manchmal bis ins Exzentrische gesteigerten, Tierliebe, das weiß die ganze Welt, und wir haben genug Selbstironie, um über die Witze, die unserem Kult mit den Vierbeinern gelten, mitzulachen. Aber das Pferd hat einen besonderen Ehrenplatz in unserem Leben, und zwar schon seit undenklichen Zeiten. Davon zeugen die großen symbolischen Pferdedarstellungen, die in den verschiedensten Gegenden Englands wie gigantische Zeichnungen aus dem Grün der Hänge leuchten.

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Der berühmte Schimmel von Uffing-ton in Berkshire — ein Roß, das von den Nüstern bis zum Schweif etwa 110 Meter mißt, gleichsam in die Landschaft graviert, indem man die Grasnarbe abhob, so daß die darunterliegende Kalkschicht zutage trat — sieht wie eine Skizze aus Picassos neuester Schaffensperiode aus. Dabei ist dieses Wahrzeichen vermutlich 2000 Jahre alt, vielleicht das Kultbild eines Keltenstammes, der hier in der Epoche, bevor die Römer das Land eroberten, eine Gottheit in Pferdegestalt verehrten. Diese irgendwie mythische Beziehung zu den Langmähnigen hat sich untergründig über alle Zeiten hinweg erhalten. Fast jeder Engländer ist irgendwo in einem Winkel seines Herzens ein Pferdenarr. In keinem anderen Land gibt es so viele Gestüte, Reitställe, „Pony Clubs“, Asyle für alte ausgediente Klepper und sorgsam aufbewahrte equestrische Antiquitäten. „Horse Brasses“ etwa — die ornamentierten Messingbeschläge des Zaumzeugs und der Geschirre — wurden zu beliebten Sammelobjekten. Bei den traditionellen Zeremonien entfaltet die große Kavalkade ihre ganze Pracht: die Fahrt des Herrscherpaares nach Westminster, zur Eröffnung einer neuen Sitzungsperiode des Parlaments, die alljährliche Gardeparade in London zur Feier des „offiziellen“ Geburtstags der Königin, der immer im Mai oder im Juni gefeiert wird, weil man dann am ehesten mit schönem Wetter rechnen kann.

Noch immer bestehen im Verband der beiden britischen' Gardekavallerieregimenter, der „Life Guards“ und der „Royal Horse Guards“, berittene Schwadronen in unverändert viktorianischer Gala, charakteristische Motive für Fremdenverkehrsplakate und Farbphotoamateure. Auch der bespannte „King's Troop“ der „Royal Horse Artillery“ hält sich in splendid isolation, repräsentativ husarisch uniformiert, abseits der allgemeinen militärischen Entwicklung. Und der festliche Aufzug des Bürgermeisters, die „Lord Mayor's Show“, die jeweils am zweiten Samstag im November als prunkendes Schauspiel in den Straßen der Londoner City abrollt, wäre ohne die goldenen Märchenkarossen und somit ohne Pferde in funkelnder Beschirrung nicht denkbar. Die britische Landwirtschaft ist vollmotorisiert wie die keines anderen Landes der Welt, dennoch gibt es auf vielen Farmen Pferde, die noch immer zum Pflügen verwendet werden. Die freie Natur der „Country-side“ ist der Lebensraum der Wildponys, vom Heideboden Dartmoors und Exmoors im Süden bis zu den kargen Shetland-Inseln im Norden. In den Großstädten kann man noch den Bierfuhrwerken der Brauereien begegnen, und am Ostermontag paradieren die Zugpferde von London, eine stattliche, lange Kolonne. In England vergeht kaum ein Tag, an dem die Bedeutung des Pferdes nicht durch das eine oder andere Ereignis gewürdigt wird: feudale Fuchsjagden und Polospiele, weltberühmte Wettrennen wie das Derby, das Royal Ascot oder das Grand National. Jeden zweiten Monat ist in Newmarket großer Pferdemarkt. Seine Fähigkeiten als Nation der Pferdezüchter bringen dem Königreich durch den Export von Hengsten, Zuchtstuten und Wallachen jährlich mehr als sechs Millionen Pfund ein.

Verständlich, daß all diese Beispiele zur Nachahmung anregen. Vielen genügt es nicht, andere reiten oder auf dem Kutschbock'die Zügel führen zu sehen, sie wollen sich selbst in den Sattel schwingen. Nun, das läßt sich leicht machen. Wenn man zum Beispiel an einem sonnigen Morgen aus dem Londoner Hotelfenster blickt und Lust auf einen Ritt im Hyde Park verspürt, zufällig aber kein Pferd im Reisegepäck hat, genügt ein Anruf bei einem der vielen Reitställe der Themse-Metropole, und im Handumdrehen steht ein Tier gesattelt und gezäumt bereit. Eben equestrisches Schnellservice. Für solches „Glück der Erde“ bezahlt man durchschnittlich 1 Pfund 10 Shilling pro Stunde. Wer allerdings lieber einen Geländeritt unternehmen will, braucht sich nur an eine der zahlreichen Reitschulen zu wenden; es gibt hunderte davon, in ganzen Land verstreut. Auf diese Weise hat sich in England eine neue Form des Tourismus herausgebildet: Urlaub im Sattel. Zudem ist in manchen, schwer zugänglichen Regionen das Pferd sogar das einzige und beste Transportmittel. Die „Holiday Centres“ im Zeichen des Hufeisens liegen in den schönsten unberührten Gebieten Englands, Schottlands und Nordirlands. Es gibt zwei Gruppen: die eine für Gäste, die bereits über eine gewisse Erfahrung mit Pferden verfügen. Solche Reitställe werden das ganz Jahr über betrieben, sie bieten neben den Möglichkeiten für Trab und Galopp auch Unterricht in den höheren Formen der Reitkunst und mehrtägige Distanzritte.

Neulinge hingegen erwartet das reizvolle „Pony Trekking“, die beste Jahreszeit dafür ist etwa von Ostern bis Oktober, und jeder kann es versuchen, selbst wenn er vordem einen Steigbügel nicht von einem Suppenlöffel zu unterscheiden vermochte, denn die Reittiere sind lammfromm, an Anfänger gewöhnt, und man reitet sowieso meist nur im Schritt. Rasch ist die erste Scheu überwunden, man schließt Bekanntschaft mit seinem Pony, einige Unterweisungen erleichtern den Kontakt. Der Reiter der Vorwoche war ja genauso unerfahren, zumindest in der ersten Zeit. Das Pferd ist daran gewöhnt, wenn es die menschliche Sprache verstünde, könnte es die Erklärungen des Reitlehrers schon im Schlaf auswendig. Täglich rückt die kleine Ponykavalkade um etwa 10 Uhr vormittags aus und ist bis in den Nachmittag unterwegs. Dieses Trekking ist wohl die romantischeste Art, die Landschaft zu erleben, jede Stunde bringt neue Eindrücke — den Ruch eines Kiefernhaines, das silbriggrüne Flimmern der Birken im Sonnenlicht, die Silhouetten erratischer Blöcke im Moorgrund, das Farbenspiel von Farn und Fingerhut, Ginster und Heidekraut. Sehr bald entwickelt sich eine harmonische Beziehung zwischen dem Reiter und seinem Pony, das ihn sicheren Tritts über sichere Pfade trägt. Der Sozialtourismus im Sattel als hohe Schule der Gemächlichkeit. Und wenn man zum letztenmal absitzt, weiß man vielleicht sogar bereits ein wenig über Wartung und Zäumung des Pferdes Bescheid. Auch das erweitert den Horizont.Dann werden die berittenen Posten der Life Guards in London in ihrer makellos statuarischen Haltung und den funkelnden Kürassen nicht mehr wie fremde Wesen von einem anderen Stern wirken. Denn nun hat man, in bescheidenem Maß freilich, Zugang zu ihrer Welt, der Welt des Pferdes. Man kann selbst im Sattel sitzen — ohne mulmiges Gefühl im Magen.

(Aus dem Englischen übersetzt von Gunther Martin.)

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