6613555-1955_16_08.jpg
Digital In Arbeit

Die Welt unter dem Grabtuch

Werbung
Werbung
Werbung

Die Galerie St. Stephan zeigt wieder eine sehr, sehr schöne Ausstellung. Der erste Raum enthält Farblithographien von Alfred Manessier. Da sind zunächst die sieben Lithographien über das Thema Ostern. (Wir sahen sie schon in der Ausstellung moderner christlicher Kunst in der Secession im vergangenen Herbst, aber hier kommen sie, gut gehängt, besonders glücklich zur Geltung.) Sie sind bedeutsam, da sie, obwohl rein abstrakt, doch einen bestimmten Inhalt klar ausdrücken können. Sie führen alles zur allgemeinsten Form zurück, in das Stadium der Knospe, da aus jeder Linie, aus jeder Fläche noch alles werden kann, wo keine Möglichkeit verschlossen ist. Und zugleich sind sie, trotz aller noch nicht entschiedenen Möglichkeiten, entschiedener Ausdruck ihres geistigen Gehalts. Sie sind abstrakt, aber voll Assoziationen an Dinge der Welt, und dadurch selbst voll Welt. Ohne sich auf ein Ding ausschließlich festzulegen, enthalten und verwandeln sie alles, und indem sie sich nicht festlegen, gehen sie darüber hinaus. Denn was ist das Thema Ostern im Wesen anderes als auch das Thema der ewigen Verwandlung? Der Verwandlung von Brot in Fleisch, von Wein in Blut, der Verwandlung von Schuld in Erlösung. Und auch die Auferstehung, der Uebergang von Lebendigem zu Totem und von Totem zu Unsterblichem, ist ja eine wunderbare Verwandlung. Etwas von dieser dauernden Verwandlung ist in allen Blättern. Die einzelnen Titel sind hier nicht — wie oft bei abstrakten Bildern — Tarnung, sondern Inhalt. Da ist zuerst das Blatt Gethsemane, und das Olivgrün erinnert uns an den Oelberg und an einen Abend, der dort geschah. (Ueberhaupt sind die Farben das Wesentlichste an diesen Blättern. Nicht nur daß auch sie Assoziationen bringen: sie sind Brücke zum Beschauer, dem sie die Stimmung geben, die er für das einzelne Blatt braucht.)

Dann „Die Gefangennahme“. Waffen, Speerspitzen zeichnen sich ab und werden zu Dornen, zur Domenkrone. Dann die nächste Station: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen“, steht unter dem Blatt, das aus den Farben schwarz-grau-rot-oliv lebt Ein Gitter wird sichtbar (noch nicht das Kreuz, aber wir ahnen es schon) und Blutstropfen treten hervor. Dann: „Es ist vollbracht.“ Wieder die Dornen, der Schmerz. Aber alles ist ruhiger geworden, das Blut tropft nicht mehr. War dies Blatt schwarz und gelb gehalten, so ist das nächste durch den Gegensatz violett-weiß bestimmt: ..Grab und Abstieg zur Hölle.“ Das Violett scheint wie das Grabtuch zu sein, das vorgehängt wurde, um uns Leichnam, Grab und Hölle zu verbergen. Das Eigentliche geschieht dahinter, hinter dem Bild. Unter dem Grabtuch ist die Welt. Das vorletzte Blatt: „Auferstehung.“ Eine orangefarbene Sonne; nur dieses eine, sonst nichts. Das letzte: „Ostern.“ Es ist hell und gedämpft, wie die Freude in Gärten, in die wir am Ostermorgen hinausgehen. — Dies sind einige Meditationen zu den Meditationen Manessiers. Aber das ist das Eigene an Meditationen: sie hören nie auf. Sie brechen nur ab; verborgen gehen sie weiter, um plötzlich wieder in unser Bewußtsein zu treten.

Einige Manessier-Blätter sind für Wien neu und werden hier erstmalig gezeigt. „Morgendämmerung“, „Der Fisch“, „Abendlitanei“ sind die schönsten darunter. — Der zweite Raum zeigt — als Leihgabe der Albertina — einige Blätter aus dem Zyklus „Miserere et Guerre“ von Georges Rouault; die Reihe der 5 8 Radierungen entstand in den Jahren 1914 bis 1927. Die wuchtigen, monumentalen Blätter sind reich an weichen Zwischentönen; die photomechanische Uebertragung von Tuschvorzeichnungen auf Kupferplatten, die dann vom Künstler mit Aquatinta und Kaltnadel überarbeitet wurden, ermöglichte sie. Wir sahen den Zyklus schon aus Anlaß des Katholikentages; aber immer wieder überrascht eine Nuance, die Rouault etwa durch eine Kopfhaltung geben kann oder durch die Dämmerung über dem Land des Durstes und der Armut, von der wir wissen, daß sie immer dauert ... So ist die Sprache dieser Blätter, obwohl deutlich und fest, alles andere als arm.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung