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Die Wiener Passion

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Das verbrannte Chorgestühl von St. Stephan zu Wien. Text von Paul W. Stix, Bilder von Lucca Chmel. Verlag Herold, Wien, 89 Abbildungen, 112 Seiten

Nach und nach vernarben die gräßlichen Wunden, die in den Katastrophentagen des Jahres 1945 dem altehrwürdigen Bau des Wiener .Stephansdomes beigebracht worden waren. Der gegenwärtige Stand unserer kunstgeschichtlichen Kenntnisse und bautechnische Meisterschaft ermöglichen eine einwandfreie Rekonstruktion der schwerst beschädigten Teile. Unwiederbringlich verloren sind dagegen, abgesehen vom einzigartigen Holzgerüst des Dachstuhles, einigen Altarblättern, Grabmälern und Statuen, vor allem der sogenannte Wimpassinger Kurzifixus, der förmlich schicksalhaft kurz vor Ausbruch des Krieges in den Dom überstellt worden war, und das gotische Chorgestühl, das in seinem figuralen und ornamentalen Reichtum im gesamten deutschen Kulturbereich seinesgleichen nicht hatte. Die Aufstellung eines solchen Gestühls war schon notwendig geworden, als Rudolf der Stifter 1365 das in der Burg gestiftete Kapitel an die Pfarrkirche zu St. Stephan übertrug, aber erst zum Jahre 1426 erfahren wir von einem Auftrag dieser Art an einen Meister Michel. Die Anschaffung des spätgotischen, also des dritten —,'uns ollen bekannten — Gestühls dürfte nach Klebel mit der Umgestaltung im Chorraum zusammenhängen, die durch den Abbruch des Lettners veranlaßt wurde. Die Arbeit, die seit 1476 etwa zehn Jahre in Anspruch nahm, wurde dem Bildschnitzer Rollin ger übertragen, der natürlich unmöglich allein, die ihm zugedachte Riesenaufgabe bewältigen konnte. Seinen, persönlichen Anteil abzugrenzen, ist-Sache stilkritischer Erwägungen, • ; ',

Im Zuge der Neugestaltung des ganzen Chorraumes um die Mitte des 17. Jahrhunderts wurde durch Matthias H a c k 1 für die Domherren ein neues barockes Gestühl näher dem Altar errichtet, das alte gotische der Universität und dem Stadtmagistrat überlassen.

Am 13. April 1945 stürzte die südliche Stützmauer des Chordaches ein, durchschlug auf eine große Fläche das Gewölbe des Mittelchors, und die herabfallenden glühenden Balken besiegelten für immer das Schicksal des Chorgestühles. Nur eine einzige Statuette des hl. Sebaldus (heute im Diözesanmuseum) konnte gerettet werden. Das ganze übrige Chorgestühl war restlos ein Raub der Flammen geworden. Somit ist es als ganz besonders glücklicher Zufall zu werten, daß noch im Winter 1944/45 die Photographin Lucca Chmel veranlaßt wurde, an die neunzig Aufnahmen von der Folge der Passionsreliefs festzuhalten, die nun in einer erstrangigen Veröffentlichung des Verlages Herold der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Die Abbildungen selbst wie die Aufnahmen zahlreicher Details (Gruppen, Einzelfiguren, Köpfe, Handstudien) lassen an Eindringlichkeit nichts zu wünschen übrig; nur die erste Tafel (Teilansicht des Chorgestühls) ist nicht ganz wohl geraten. Da von den 46 Reliefs der Rüdeseiten nur 38 der Leidensgeschichte angehören, sind einige andere Themen aus dem Leben Jesu (1—11) dem eigentlichen Thema vorangestellt. Paul W. S t i x fußt in seiner beschwingt geschriebenen Einführung naturgemäß auf den gründlichen Vorarbeiten Klebeis und Tietzes, die er aber mit anerkennenswerter Selbständigkeit des Urteils verwertet. Richtig beachtet sind das im Wiener Chorgestühl erstmalig spürbare architektonische Element sowie der folgerichtige Niederstieg von der Zone de Heiligen in jene des Profanen, ja Burlesken.

Die einzelnen Darstellungen werden auf ihren formalen und psychischen Gehalt mit großem Geschick überprüft. Das auffallende Motiv „Christus wird in den Cedronbach geworfen“ ist nachweisbar durch Vermittlung von „Pilgerführern“ populär geworden. Dia Vermutung Tietzes, daß die Reliefs erst als nachträgliche Bereicherung des ursprünglichen Planes des Konstanzer Gestühls im Verlauf der Arbeiten eingesetzt worden seien, wird mit neuen Gründen bestärkt. Der Hinweis auf das vielfach verwendete Lindenholz gegenüber dem sonst verarbeiteten Eichenholz müßte auch auf die Reihe der Heiligenstatuetten ausgedehnt werden. Die heikle Frage nach dem Anteil verschiedener Hände an den Passionsreliefs wird hoffentlich in der kommenden Veröffentlichung über Wilhelm Rollinger von Prof. Kindermann einer gesicherteren Klärung zugeführt werden können. Die Reliefs sind ein gewichtiger Bestandteil in dem großangelegten System eines speculum humanae salva-tlonis, das freilich in dieser Spätzeit keineswegs streng folgerichtig, sondern sehr beiläufig zur Schau gestellt wird.

Vorliegende Veröffentlichung wird für alle, die sich von nun an wissenschaftlich mit der Ausstattung des Stephansdomes beschäftigen oder auch nur dafür interessieren, ein unentbehrliches Nachschlagewerk bleiben. Aber auch der Forscher auf dem allgemeinen Gebiet spätgotischer Plastik sowie der mittelalterlichen Ikonographie und des geistlichen Schauspiels wird das hier gebotene Anschauungsmaterial als Grundlage für weitere Untersuchungen nicht außer acht lassen können. Dem religiösen Gemüt aber ist durch die innigfromme Art dieser Darstellungen ein tief aufrüttelndes Erbauungsbuch gegeben, das eine besinnliche Betrachtung des Leidens Christi sehr erleichtern und nachhaltig vertiefen wird.

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