6553683-1948_09_12.jpg
Digital In Arbeit

Die Zahl als das Maß der Dinge

Werbung
Werbung
Werbung

„Ein Punkt, der in den Zirkel geht, der rai Quadrat und drey Angeln steht, trefft ihr den Punkt, so habt ihr ’s gar, und kommt aus Angst, Not und Geiahr, hiermit habt ihr die ganz: Kirnst — versteht ihr’s nit, so ist’s umsonst!“

Der alte Hüttensprueh der Kölner Bauhütte tritt in dem zerstörten Bauwunder von St. Stephan offen und herrlich zutage, für jeden, der da sehen kann, und ist doch von tiefen Geheimnissen einer verloren- gegangenen mittelalterlichen Kunst umwoben. Gerne möchte man die Schleier gelüftet sehen, doch das Versprechen eines jeden zum Gesellen geschlagenen Steinmetzen, bis zu seinem Tode zu schweigen, läßt uns diese Hoffnung schwinden.

Wenn die Wiener Bauhüttensaramhmg mit ihren 277 Blättern besteht — 160 stammen von der Hand größter Steinmetze und Baumeister der deutschen Gotik, vorzüglich Pläne des Stephansdomes aus der Zeit um 1450, so kann man nur staunen über die Feinheit der Ausführung und der Zierlichkeit der Ornamentik. Die Wiener Bauhüttensammlung ist bei weitem die umfangreichste, die erhalten blieb; die der Bauhütte in Straßburg umfaßt nur 14 Zeichnungen. Die 277 Wiener Blätter waren zuerst in St. Stephan, dann in der alten Akademie zu St. Anna aufbewahrt worden. Besonders kostbar ist wohl der drei Meter hohe Entwurf Hans Budisbaums für den nicht ausgebauten Nordturni des Stephansdomes.

Uber Europa verstreut gab es viele Bauhütten, die aber von den vier „Haupthütten“ zu Straßburg, Köln, Wien und Zürich abhängig waren. Jede dieser vier hatte ihre eigene Lehrart.' Im Grunde aber handelt es sich bei den verschiedenen Systemen immer wieder um gewisse einfache geometrische

Konstruktionen, die gleichsam als kanonische Richtschnur für die zu errichtenden Bauten dienen sollten. Es waren dies Methoden, um einen „Grundkreis" mit Hilfe von Lineal und Zirkel in eine gegebene Anzahl gleicher Teile zu teilen, also in eine Kreislinie ein gleichseitiges, „reguläres“ Dreieck oder aber ein Quadrat, ein reguläres Fünf-, Sechs-, Sieben- oder Achteck einzuzeichnen. EHeses Verfahren hat, wie der bedeutendste Wiener Dombaumeister der neueren Zeit, Friedridi Schmidt, anniramt, eine der Grundlagen für alle gotischen Konstruktionen dargestellt; auch die der technisch kühnsten. Da ist insbesondere die auf das gleichseitige Dreieck gegründete „Triangulatur", die auf dem eingeschriebenen Quadrat beruhende „Quadratur“ sowie die aus ihnen abgeleiteten Figuren in Verbindung mit inneren Berüh- rungskreisen, welche aus der „Triangulatur“ den „Dreipaß“ und aus der „Quadratur“ den „Vierpaß“ hervorgehen Eeßen. Durch das Verbinden von Halbierungsseiten einzelner Vieleckseiten und durch wiederholte Anwendung dieser Methoden, die sogenannte „Potenzierung“, engeb sich nun jene gewaltige Fülle von Gestaltungen, die wir an den gotischen Bauwerken bewundern. So nimmt man an, sind die „Mutterfiguren“ oder der „gerechte Steinmetzgrund" entstanden.

Erst in jüngerer Zeit hat man von ganz großen Bauregeln erfahren. Viele wußten zwar um die Raumseele der Gotik, wenige aber um ihr Grundgeheimnis, die Zahl.

Der Kölner Dom des Meisters Gerhard von Rile, wie Sulpiz Boisseree herausfand, ist auf die Maßzahl 25, beziehungsweise 50 aufgebaut: 50 römische Fuß die Breite des Hauptschiffes, 3X50=150 Fuß die Gesamtbreite der fünfschiffigen Kirche. 9X50 = 450 Fuß deren Länge. Das Verhältnis der Länge des Querschiffes zur Gesamtlänge der Kirche beträgt 9 :5, das ist die deutsche Symmetrie, der vornehmste und höchste Steinmetzgrund des Triangels. Die Höhe des Chores entspricht der Breite der Kirche. Zur Länge des Ganzen verhält sich die Flöhe wie 2 :5; dasselbe Verhältnis gilt für das untere Geschoß bis zum First der kleinen Dächer, für das obere Geschoß vom Dachfirst bis zum Kreuz der Spitzgiebel auf dem Fenster. Die Höhe der fünfgeschossigen Türme sollte etwas mehr als die Länge der Kirche betragen, so daß mit der Verkürzung für den Beschauer von einem angemessenen Standpunkt aus die Höhe der Türme der Länge der Kirche gleich erscheint.

Beim Stephansdom wurde von Professor Castle als Grundziffer die Zahl 37 festgestellt. Die Breite des Längssdiiffes ist 3X37 = 111 Fuß. Die Breite des Längssdiiffes, vermehrt um die der beiden turmtragenden Querschiffteile, ist 2X3X37 = 222 Fuß. Die Länge der Kirche 3X3X37 = 333 Fuß. Die Höhe des Turmes 4X3X37=444 Fuß. Das Verhältnis der Gesamtbreite zur Gesamtlänge beträgt demnach 2:5. Diese Zahl 37, als unteilbare Primzahl, ergibt, wenn man sie mit 3 und dessen Vielfachen multipliziert, wunderbare Produkte: 111, 222, 333, 444 usw. Prof Castle, der diese mathematischen Berechnungen anstellte, ist der Meinung, es müsse ein tiefsinniger Theologe und Mathematiker gewesen sein, der für den Bau der Stephanskirdie die Schlüsselzahl XXXVII wählte, nach der im Mittel- alter verbreiteten symbolisdien Weltansicht offenbart sich in der römischen X das Krcuz- zeidien und Christus, in XXX die Dreifaltigkeit, in der VII die Zahl der Schöp- fumgstage, der Gaben des heiligen Geistes und der Sakramente. In der Ziffernsumme 3 -J-7= 10 die Zahl der Gebote. Die Zahl 37 dürfte deshalb den in das göttliche Geheimnis sich versenkenden Geist als hochheilige Zahl erscheinen. Sie wurde von den Erbauern als Grundmaß und Grundeinheit für die Verhältnisse aller Bauglieder genommen.

Kraft, Würde, Klarheit und heiliger Ernst sind die Kennzeichen des Stephansdomes, dieses herrlichen Bauwerkes. Es mahnt die Menschen, sich selbst zu erforschen, auf daß ihr Denken und Leben würdig werde des Strebens und des Glaubens der großen Vergangenheit. Den letzten Gehalt dieser Werte suchten die Völker in ihren großen Domen auszusprechen. Jedem Volke sind diese Dome, Münster und Kathedralen Sinnbild dessen, der —- wie das alte Sprichwort sagt — niemals ganz erschaut werden kann, der aber alles erschaut.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung