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Ahnung und Einblick

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Vor zehn Jahren verbrachte Reinhold Schneider den Winter in Wien. Aus den damaligen Tagebuchaufzeichnungen entstand sein letztes Buch, in dem er auch vom eindrucksvollen Abend zu Ehren Käthe Braun-Pragers aus Anlaß ihres 70. Geburtstags in der Nationalbibliothek berichtet, wo ihre graphischen Visionen gezeigt und ihre Verse gelesen wurden. Schneider setzt Käthe Braun in eine Reihe mit Simone Weil, Edith Stein, Gertrud Colmar und kommt zu der denkwürdigen Einsicht; „Das ewige Leben kann nur die Fortsetzung des erfahrenen sein, befreit von seinen erfahrenen Beschwerden.“

Käthe Braun-Prager hat ihren 80. Geburtstag nicht mehr erleben dürfen, wenige Monate zuvor wurde sie der irdischen Beschwerden enthoben. Ihr Werk bestätigt — und wird es weiterhin immer deutlicher tun —, was Reinhold Schneider erkannt hat; daß gerade dem Willen zum Diesseits (nach der Lebenskrise) der Glaube an das Jenseits entkeimt. Diese Ambivalenz, das Gefühl für das Reale wie die Wendung zum Transzendenten, ist der tiefste Antrieb ihres Schaffens, das vom Schaubaren, Sinnhaften ausgeht und ins Geahnte und doch Gewisse vorstößt. Deshalb inspiriert sie die alltägliche Umgebung genauso wie eine visionäre Schau, deshalb rettet sie selbst in tragischen Lagen, ohne verbittert oder ironisch zu werden, ihren Humor. Bei aller Gebundenheit an das Wirkliche reflektiert ihre Lyrik etwas Überwirkliches, wie sich auch in den gezeichneten und gemalten Bildern der Dichterin das Hintergründige offenbart. Alle Gedichte (in den Sammlungen „Verfrühter Herbst“, „Stern im Schnee“, „Verwandelte Welt“, „Die Mondwolke“) sind ausgefeilt und unantastbar für den überholenden Formwillen der Dichterin.

Kein Zufall, daß diese lyrischen Kunstwerke voller Melancholie sind, rückschauend, oft von Herbst- und Todesschatten umflort! Sie sind ein Abschluß, die Ernte einer Tradition, die von Mörike und C. F. Meyer über Rilke, Hofmannsthal, Carossa, Leifhelm, Mell und Felix Braun in unsere Zeit reicht. Glühend und verhalten zugleich sind die Farben der Palette Käthe Brauns, Farben der Reife alle, auch wenn noch Mädchenträume hereinspielen. Harte Erfahrungen haben es aber nicht vermocht, das Herz zu verhärten, im Gegenteil, sie haben es gelöst. Das Bewußtsein der Bewährung macht immer frei und leicht und schenkt neues Vertrauen. Käthe Braun hat allem Schmerzlichen einen tiefen Sinn gegeben und weiß: „Gott bedarf unseres Leides für seine Kraft, uns zu helfen." Sie weiß auch, daß die „Abschiede in Gottes Umarmung führen“. Der Angst und der Prüfung setzt sie die Liebe entgegen. Liebe bedeutet: sich lösen vom eigenwilligen Selbst, vom Egoismus, heißt eingehen in Art und Gestalt aller Wesen durch ein mitschöpferisches Empfinden.

Die verstandesmäßige Komponente kommt haupsächlich im Prosawerk der Dichterin zum Ausdruck. Die Mitteilung des Gedankens erfolgt meist in der Form von Aphorismen („Ahnung und Einblick", „Reise in die Nähe"), die indes oft nichts anderes sind als Verkürzung von Gedichten. Bei allen geschliffenen Kostbarkeiten der Betrachtung und Besinnung rechtfertigt der Sinn das Bild. Wie scharf die Dichterin zu zielen versteht, wie präzise zu treffen, das zeigen ihre kleinen Charakteristiken etwa von Malern, Musikern und Philosophen.

Sind die Aphorismen Ergebnisse gleichsam eines geistigen Kristallisationsprozesses, so sind die Essays („Große Frauen der Heimat", „Krieg der Väterlichkeit: Rosa Mayreder“), die Anthologien („Liebe", „Das Buch der Mütter“) und die Übersetzungen (etwa aus dem Chinesichen) Resultate des Fleißes und der Einfühlung, des Wissens und eines weiten Horizonts. Die Erzählungen Käthe Brauns („Heimkehr") umspannen die Entstehungszeit von 1914 bis 1957, geben also ein Panorama der stilistischen Entfaltung. Daß die Dichterin diese Erzählungen zuerst „Visionen aus dem Alltag" nennen wollte, zeigt wiederum die Polarität an, aus der jede der Geschichten entspringt und Spannung erhält. Schwermut und Humor gemischt — das ist vielleicht auch das Schlüsselwort für das Buch, das jetzt nach dem Tode der Dichterin erscheint und ihre bisher ungedruckten Erinnerungen aus der Emigrationszeit in England enthalten wird.

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