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Am Genfersee

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Mit dem Erscheinen eines Buches, des Briefromans „La Nouvelle Hėloi’se”, hielt die Schweiz im Jahr 1761 ihren triumphalen Einzug in die französische Literatur. Ein Genfer Uhrmachersohn war der Autor und Clärens, am Nordufer des Lac Lėman, der Ort der Handlung, den der Dichter in so lieblich-verlockenden Farben schilderte, daß seither die literarischen Pilgenzüge in diese Landschaft nicht mehr abrissen, —In der Tat spielt in der sentimentalen, bittersüßen Liebesgeschichte zwischen Julie d’Etanges, der Tochter eines wallisischen Edelmannes, und ihrem Hauslehrer Saiint-Preux die Landschaft eine so wichtige Rolle, wie in keinem europäischen Roman vorher. Das Buch Rousseaus beschäftigte nicht nur die französische, sondern die europäische Gesellschaft, und so wurde die Landschaft, die den Hintergrund bildete, weltberühmt.

Auf Rousseaus Spuren kam, von Paris her anreisend, Lord Byron hierher. Er hatte England 1816 verlassen und sollte es nicht mehr Wiedersehen. In Genf traf er seinen Landsmann Shelley, und im Schloß von Chillon betrat er jenen unterirdischen Kerker, in dem, an eine Säule gefesselt, „Der Gefangene von Chillon”, der Genfer Prior Bonivard, von 1530 bis 1536 geschmachtet hatte, bis er von den Bernem befreit wurde. — Am Lord Byron erinnern mehrere Gedenktafeln, und sein Name ist mit dem des Schlosses von Chillon so eng verbunden, daß man ihn auch sprachlich assimiliert hat und den Namen des „Hotels Byron” in Montreux „Hotel Birön” ausspricht.

Aber noch vor Rousseau hatte ein anderer französischer Schriftsteller am Genfersee geweilt; Voltaire, der mächtigste und einflußreichste Mann das 18. Jahrhunderts, dem Frankreich hervorgebracht hat. Nach der Vollendung seiner universalen Studie über „Die Sitten und den Geist der Völker” ließ er sich 1756 zunächst in „Les Dėlices” in der Nähe von Genf, später im Schloß Ferney (in der Region Gex, nahe der französischen Grenze) nieder und blieb hier volle 22 Jahre, bis zu seinem Tod, der ihn während eines Aufenthaltes in Paris ereilte. Hier schrieb er „Die Geschichte Rußlands unter Peter dem Großen”, den „Dictionnaire philoso- phique”, empfing Könige und Fürsten, Gelehrte und Künstler, Schüler und Verehrer — und führte eine uferlose Korrespondenz mit fast allen bedeutenden Zeitgenossen in Frankreich und in Europa (es gibt von Voltaire mehr als 12.000 Briefe, darunter sehr umfangreiche!). Spaziert man am Nordufer des Gen- fersees entlang, auf einer viele Kilometer langen Promenade, die die Orte Vevey, Clärens, Montreux und Villeneuve verbindet, und durchstreift man ein wenig die Gassen dieser Orte, so findet man auf Schritt und Tritt Erinnerungstafeln — oder erinnert sich an Gelesenes und Gehörtes.

Auf dejn Friedhof vqn..-C ąreqą ruht, seinem Wunsch entsprechend, ein anderer großer „Confesseur” in der Tradition Rousseaus: der Genfer Henri-Frėdėric Amiel (1821 bis 1881), der ein mehrere tausend Seiten umfassendes „Journal intime” hinterlassen hat, das für die Dichter des „Jungen Wien” einst viel bedeutete — und heute kaum noch dem Namen nach bekannt ist.

1854 weilte der große englische Ästhetiker John Ruskin hier, 1856 Michelet, der Verfasser einer großen Geschichte Frankreichs, 1857 Leo Tolstoi, 1882 Alphonse Daudet, 1883 Victor Hugo. — In seinem freiwilligen Exil, das er bei Ausbruch des ersten Weltkrieges in Villeneuve wählte, empfing Romain Rolland den Besuch Rabindranath Tagoires und Mahatma Gandhis, dessen 100. Geburtstag eben jetzt gefeiert wird.

In Vevey erinnert eine Tafel an den „großen polnischen Patrioten und Schriftsteller” Henryk Sienkiewicz, der hier am 15. November 1916 gestorben ist, eine andere an „Fėdor Dostoievski, ėcrivain russe, qui vėcut et travailla dans cette maison en 1868”. In den Jahren 1877 und 1879 weilte Tschaikowsky in Clärens und empfing hier den Besuch seines Bruders Modest und den Rubinsteins. (Er war der einzige, der, seinen persönlichen und russischen Kummer mit sich schlappend, an dieser Landschaft keinen Gefallen fand: sie sei zu sehr von Menschenhand verunstaltet!)

In einer Monographie über Montreux ist ein Kapitel „La Dame en noir” überschrieben: Am 30. August 1898 kam Kaiserin Elisabeth von Österreich nach Caux (heute Zentrum der „Moralischen Wiederaufrüstung”), dem höchstgelegenen Schloß dieser Gegend, bestieg von hier aus die Rodlers de Naye und trat am 5. September ihre letzte Reise an — nach Genf, wo sie, nach einem Empfang bei Julie de Rothschild, ermordet wurde.

Über die Aufenthalte und Schicksale einiger großer Musiker aus unserer Zeit — wie Strawinsky, Hindemith, Furtwängler und Ansermet — haben wir anläßlich unseres vorjährigen Besuches in Montreux berichtet (siehe „Die Furche” vom 12. Oktober 1968).

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