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Osterreichs Mme. Recamier

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Als die Wienerin Bertha Zuckerkandl-Szeps 1938 in Paris ihr Flüchtlingsgepäck öffnet, fällt ihr ihr Telephonbuch mit seinen zahllosen Namen und Eintragungen entgegen. Arthur Schnitzler hatte ihr einst geraten, alles zu registrieren: „Gerade Sie als Frau begreifen näher und intimer, aus welchen Elementen eine Epoche geworden ist, die im Rückblick gewiß als einheitliches und bedeutendes Ganzes zu erkennen sein wird.“ Erst in Algier, wohin Bertha Zuckerkandl-Szeps aus dem besetzten Paris geflohen war, entschließt sie sich, ihrem Enkel Emil auf dessen Drängen ihre Erinnerungen an Österreich, an Maler, Schriftsteller, Musiker, Wissenschaftler und Politiker zu diktieren, die in ihrer Döblinger Villa und ihrem Salon in der Oppol-zergasse ihre Gäste und Gesprächspartner waren.

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Als die Wienerin Bertha Zuckerkandl-Szeps 1938 in Paris ihr Flüchtlingsgepäck öffnet, fällt ihr ihr Telephonbuch mit seinen zahllosen Namen und Eintragungen entgegen. Arthur Schnitzler hatte ihr einst geraten, alles zu registrieren: „Gerade Sie als Frau begreifen näher und intimer, aus welchen Elementen eine Epoche geworden ist, die im Rückblick gewiß als einheitliches und bedeutendes Ganzes zu erkennen sein wird.“ Erst in Algier, wohin Bertha Zuckerkandl-Szeps aus dem besetzten Paris geflohen war, entschließt sie sich, ihrem Enkel Emil auf dessen Drängen ihre Erinnerungen an Österreich, an Maler, Schriftsteller, Musiker, Wissenschaftler und Politiker zu diktieren, die in ihrer Döblinger Villa und ihrem Salon in der Oppol-zergasse ihre Gäste und Gesprächspartner waren.

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Diese unter dem Titel „Österreich intim“ soeben im Popyläen Verlag, Berlin (Ullstein Frankfurt-Wien), erschienenen Erinnerungen aus den Jahren 1892 bis 1942 wollen nicht bloßstellen oder kolportieren. Dort, wo Bertha Zuckerkandl-Szeps geistreich und liebenswürdig „un peu de cette histoire qui n'a pas d'historien“ berichtet, amüsiert sich der Leser wohl herzlich, aber nie hämisch, spürt er doch, daß jedes Kapitel eine Liebeserklärung an „das Leichte, Lässige, Verträumte im Österreicher“ ist, an das, was die Welt unbewußt als „österreichisch“ empfindet.

Am 12. April 1863 wurde die Tochter des einflußreichen liberalen Verlegers und Publizisten Moriz Szeps in Wien geboren. Bertha und ihre Schwester Sophie nahmen seit ihrer Jugend am politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben Wiens teil. Zu den Freunden ihres Vaters gehörte Georges Clemenceau, der bei einem seiner Besuche seinen jüngeren Bruder Paul mitbrachte. Paul verliebte sich in Sophie, sie heirateten, und bald galt ihr Pariser Salon als Zentrum der französisch-österreichischen Begegnung und Freundschaft. Bertha heiratete den jungen Anatom Emil Zuckerkandl, dem als Leiter des Wiener anatomischen Instituts eine ungewöhnliche Karriere bevorstand.

In der Döblinger Villa des Paares waren die Künstler der Sezession besonders gern gesehen, trat Bertha Zuckerkandl-Szeps in ihrer Eigenschaft als Kunstkritikerin der „Wiener Allgemeinen Zeitung“, des „Fremdenblattes“ und des „Neuen Wiener Journals“ doch unermüdlich entschieden für sie ein, wie überhaupt alles Neue, Aufstrebende, Zukunftverheißende ihre Unterstützung fand. „Eine Wiener Dame, die in unserer modernen Kunstbewegung ganz vorne steht und sogar kräftig schafft, deren gesunder Kunstverstand und energischer Idealismus mit zur ganzen Atmosphäre der Sezession gehört“, schrieb Ludwig Hevesi, der auch das Vorwort zu ihrem Buch „Zeitkunst Wien 1901—1907“ verfaßte. Ihr Leben lang kämpfte Bertha Zuk-kerkandl-Szeps für die Anerkennung österreichischer Kultur im Ausland und im eigenen Land, denn „wenn Wien eine an Genies und Talenten reiche Stadt ist, so ist sie auch eine arme Stadt, weil ihr das Genie der Genie-Ehrfurcht versagt ist und das Talent der Talenterkenntnis“. Als Mittlerin zwischen der Literatur Frankreichs und den deutschsprachigen Ländern — 120 Theaterstücke übersetzte sie aus dem Französischen oft im Auftrag des Burgtheaters oder der Reinhardt-Bühnen — erhielt sie 1929 für ihre Verdienste die französische Ehrenlegion. In Frankreich, wo sie sich wie zu Hause fühlte — „Frankreich ist immer das Land meiner Wahl gewesen“ — besaß sie viele Freunde, darunter Paul Pain-leve, Maurice Ravel, Rodin, he Nor-mand, Florent Schmitt, die Comtesse de Noailles, Paul Geraldy. Bertha Zuckerkandl-Szeps weiß in ihrem Buch nicht nur von Kunst und Künstlern zu berichten. Als eine der wenigen Frauen, der man in Österreich und Frankreich politisches Talent zutraute, unterstützte die österreichische Regierung sie 1917 bei ihrem Sondieren nach Chancen eines separaten Friedensvertrages mit Frankreich. Diese Bemühungen mißlangen, doch andere gelangen. Bertha Zuckerkandl-Szeps war den Politikern am Ballhausplaitz zu einer Art Gewährsmann für die französisch-österreichische Verständigung geworden. Daß Frankreich 1922 die Völkerbundanleihe so entschieden befürwortete, war teilweise ihr Verdienst.

Sie hatte in langen Privataudienzen Finanzminister Caillaux von der Notwendigkeit seiner Unterstützung überzeugt.

Aus der Wiener Gesellschaft war sie nicht mehr wegzudenken, sie galt als eine Institution, mit der man rechnen mußte. In der nach dem Tode ihres Gatten bezogenen Wohnung in der Oppolzergasse vis ä vis von Rathaus und Burgtheater unterhielt sie den wohl bedeutendsten literarischen Salon Österreichs und Deutschlands bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges. Hofmannsthal, Schnitzler, Max Reinhardt, Felix Saiten, Stefan Zweig, Franz Werfel, Fritz von Unruh, Friedrich-Theodor Csokor und viele andere waren Gäste dieser „Frau mit der großen gastfreien Seele, die die Gabe hatte, das Bedeutende und auch die bedeutenden Menschen zu privatisieren.“ In Paris verfaßte sie das Drehbuch zu einem Clemenceau-Film und schrieb ihr erstes Erinnerungsbuch, „50 Jahre Weltgeschichte“. Bei Hitlers Einzug floh sie nach Algier. Sie teilte nicht den weitverbreiteten Fatalitätsglauben vieler Österreicher, ihr Österreichbewußtsein hatte auch nicht erst beim unabwendbar scheinenden Anschluß seine Renaissance erlebt, sie war mit ihm auf die Welt gekommen. Deshalb sind ihre Altersveröffentlichungen keine rückwärts gewandte Verklärung der Monarchie. Wie ödön von Horvath, wie Csokor verstand sie sich „als Kronzeuge für die ewige Wahrheit gegenüber der vergänglichen Wirklichkeit, für die ewige Gerechtigkeit gegenüber menschlichen Richtern“. Radioansprachen und Veröffentlichungen in der algerischen Presse, Freundschaften wie die mit Andrfc Gide, der sie wiederholt in seinen Tagebüchern erwähnt, beschäftigten sie bis zu ihrem Ende. Am 16. Oktober 1945 starb sie in einer Pariser Klinik.

ÖSTERREICH INTIM. Von Bertha Zuckerkandl. Herausgegeben von Reinhard Federmann. Verlag Ullstein, Frankfurt-Wien, Propyläen Verlag, Berlin. 227 S., 24 Abb.

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