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An der Brücke der Oereclitigkeit

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Im Jahre 1807 schiffte eines der französischen Fremdenregimenter, das der deutsche Fürst Y. in Diensten Napoleons gebildet hatte, seinem Standort Montpellier rhoneabwärts treibend zu. Die leichte Bauart der Schiffe, aus rohen Planken zusammengehauen und jeweils nur zu einer einzigen Fahrt flußabwärts bestimmt, um am Ziel auseinandergenommen und als Bauholz verwendet zu werden, stand zu dem Ungestüm der lenzlich bewegten und von den wilden Bergwassern geschwollenen Rhone in bedenklichem Gegensatz, den indes die Soldaten, von einem Rausch in den andern gleitend, gänzlich vergaßen, überdies hatten diese wilden Naturen, meist zwischen Galgen und Galeere aufgegabelt, schon soviel Schrecken und Ungemach überstanden, daß ihnen ein zufälliges Bad in der Rhone höchstens als eine Gelegenheit zum Desertieren erschien, falls sie gerade das Handgeld voll in der Tasche trugen.

Diesem Regiment des Fürsten Y. ging der denkbar schlechteste Ruf voraus, denn um solche aus ganz Europa zusammengekehrten Banditen beieinanderzuhalten, glaubte der Fürst, ihnen den Stock nicht vorenthalten zu dürfen, und so hieß es allenthalben, wo seine blaugelben Quartiermacher auftauchten: „Das Stockregiment ist im Anzug“, was gleich war einem Schreckensruf wie diesem: „Die Galeerensträflinge sind kettenfrei!“

Ein Franzose, der entgegen dem ausdrücklichen Verbot in diesem Regiment als Furier Handgeld genommen hatte, jedoch wegen seiner Ortskundigkeit — er stammte von St-Esprit an der Rhone — geduldet wurde, obgleich er sogar diesen Banditen als Oberbandit erschien und zugleich als Feigling regimentsbekannt und verhaßt war, begann, als sie schon unterhalb von Valence trieben, von der berühmten Brücke zu erzählen, die bei seinem Heimatort St-Esprit die Rhone überspanne. Sie sei auf Anregung des Heiligen Geistes selber, wie ihr Name besage, vor vielen hundert Jahren in über fünfzigjähriger Arbeit erbaut worden, habe deswegen auch fünfzig Pfeiler; und ebenso sicher wie die Brücke den Fluß überquere, so unsicher sei die Fahrt unter den Bögen hindurch, was die Schiffer ihm auch mit ernsten Mienen beglaubigten. Er erging sich in genauer Darstellung von vielfachen Unglücken und fügte zum Schluß bei, daß man die Brücke von St-Esprit auch Brücke der Gerechtigkeit zu nennen pflege, denn die Steine seien wie Magneten für alles Sündhafte, und keiner, der Mord, Diebstahl und Hurerei auf dem Gewissen habe, komme glücklieh hindurch, weshalb denn auch die Schiffer vorher in Valence in die Kirche zu gehen pflegten. Als darauf die Soldateska, von der Erzählung des Furiers nun doch nüchtern geworden, den Bataillonschef, der auf diesem Schiffe fuhr, bestürmte, die Brücke zu Fuß zu umgehen, verkündete der Furier, daß er als Eingeborener von St-Esprit genau wisse, wie die Gefahr selbst für Sünder zu bannen sei. Es gebe da eine Glocke in einer kleinen Kirche in St-Esprit, deren Strang allerdings kein Fremder auffinden könne, die müsse man läuten. Da die Verzweifelten ihn darauf mit Fäusten zu der rettenden Glocke jagen wollten, blieb den Offizieren nichts weiter übrig, als ihn an Land zu setzen, zugleich mit dem Auftrag, nach Orange weiterzureiten und dort Quartier zu machen.

Der Furier war noch nicht lange ihren Blicken entschwunden, als die runden Bögen der Brücke wie eine lange Reihe im Wasser liegender Röhren auftauchten. Nun begannen die Tamboure auf der kleinen Flotte Sturmschritt zu schlagen, die Hörner setzten schrill ein, die Schiffer sagten ihre Gebete, und die Leute, die den Brückenrand wie bewegliche Zinnen säumten, schrien und drohten; denn sie hatten bereits vernommen, daß es das verhaßte „Stockregiment“ sei, das da die Rhone herabtreibe. Drei Schiffe hatten bereits, scharf an den Pfeilern vorbeistreichend, den gefährlichen Durchgang bestanden, als das vierte und letzte, eben das von der Erzählung erregte Schiff, auf die Brücke zutrieb. Mochte es nun sein, daß die Erregung der Schiffer durch die Erzählung des entwichenen Furiers in Verwirrung übergegangen war, oder daß die Zuschauer, deren Zurufe inzwischen in eine regelrechte Bombardierung mit Steinen, Flaschen und Erdklumpen übergegangen war, den Steuermann verletzt hatten: das Schiff stieß mit einem dumpfen Krach an den Pfeiler und brach, seiner losen Bauart entsprechend, auseinander. Als die Wogen mit umsichschlagenden Menschen, mit Tschakos, Gewehren und sonstigen Ausrüstungsstücken bedeckt waren, erschraken die Bürger von St-Esprit nun doch und stießen mit den Nachen ab, um mit einem kümmerlichen Rettungsversuch ihre Schuld zu verkleiden; indes erlitten außer den Schiffern und einigen wenigen, die vom Wein nicht gänzlich hingenommen waren, alle den Tod.

Die anderen Schiffe legten nun an, und die Geretteten, statt ihre bösartigen Lebensretter zu überfallen, schrien voll Wut und Rachedurst nach dem Furier, der nicht geläutet habe. Als die Bürger von St-Esprit von der wundertätigen Glocke hörten, schüttelten sie den Kopf und erklärten, daß eine solche Glocke noch nicht erfunden sei. Die sich vollends verhöhnt dünkenden Soldaten suchten den entwichenen Furier, um ihn für seine Lügen zu bestrafen. Im Glockenturm der Kirche zum Heiligen Geist fanden sie ihn aufgeknüpft, und der Küster bekannte, daß man ihn, weil man glaubte, er wolle die Kirche plündern, kurzerhand niedergeschlagen und aufgehängt habe. Als aber der zum Erschießen verurteilte Küster seinen Namen nannte, und man ihm bedeutete, daß der Furier gleichen Namens aus dem gleichen Ort zu stammen vorgegeben habe, da brach der Unglückliche zusammen und bekannte sich stammelnd als den Vater des von ihm Aufgeknüpften. Daraufhin wurde er mit den übrigen am Mord beteiligten und gleich ihm zum Tode verurteilten Bürgern von St-Esprit begnadigt, sosehr waren die Offiziere von dem Vorgang erschüttert, daß ein Feigling, indem er sich zu retten glaubte, der Gerechtigkeit in Gestalt seines eigenen Vaters in die Arme gelaufen war.

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