"Bitte Ihre Schlüssel..."

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Aus einem neuen Roman, in dem heute so mancher seine eigene Situation erkennen kann.

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Aus einem neuen Roman, in dem heute so mancher seine eigene Situation erkennen kann.

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Der Abgesandte neuer Herren war - so betont höflich, wie Gewalthaber, Gewalttäter es vortäuschen - an seinen Schreibtisch getreten: "Wir brauchen diesmal einen hohen Gewinnausweis, verstehen Sie? Lösen Sie alle Bilanzrücklagen auf!"

Er wandte ein: "Keine Buchung war unbegründet, der Betrieb braucht gemäß der Risikolage diese knappen Reserven. Unser Hochpfeilerbau im Apennin ist von einer Hangrutschung bedroht. - Das Senderfundament auf der Schneespitze weist Frostschäden auf. - Von der Stadtverwaltung Swansea liegt die Beschwerde vor, dass die Bezirke östlich der Glasfabrik garantiewidrig unter arger Geruchsbelästigung leiden. - Die Keramikanlage Poznan bleibt trotz Kunstschlick undicht. - Wir müssen nachliefern. Diese aktenkundigen Belastungen muss ich bilanzieren!"

Schleiss grinste: "Oder die Akten verlieren! Sie müssen ja nicht alles gewusst haben!"

Bei diesen Worten stand Benedikter auf, um sich zu sammeln. Er hielt dies in jenem Augenblick immer noch für ein wichtiges Fachgespräch.

Schleiss wich bis ans Bürofenster zurück, lehnte sich gegen die Glasscheibe. "Hören Sie, wir gehen im Herbst an die Börse. Dafür wird jetzt ein tolles Ergebnis gezeigt! Viele sollen einzahlen - auf langes Nimmerwiedersehen. Aktionäre haben, wenn sie einmal gezeichnet haben, praktisch keine Rechte!"

Benedikter hielt dies immer noch für fachliches Erwägen. "Rücklagenauflösung wäre ein Verbrechen!"

Schleiss blickte starr auf Benedikters übervolle Schreibtischplatte. "Sie haben nicht das Vertrauen der neuen Eigentümer, Herr Benedikter! Ihre stellungsgemäßen Ansprüche sind verwirkt, die dienstrechtlichen werden abgegolten. Bitte Ihre Schlüssel, den Computercode ... Sie sind ab sofort dienstfrei gestellt!"

Nach vierzig Jahren also kam diesen Mittag der verlorene Sohn Schwanbergs gänzlich verwirrt in seinem Uralt-Citroen über die hunderten Buckel der Vorhügel zur Koralpe herangerollt. Er lenkte, bremste, beschleunigte, überholte, las seltsam alte, fremde, bekannte Ortsnamen - Tomberg, Rassach, Gams. Aber sein Denken brandete immer nur gegen den Schmerz über seine Entlassung. Nach vier Jahrzehnten Bestleistung für die Wiener Taborwerke.

Die wiederentdeckten Biegungen und Steigungen, die Wald- und Steilstücke rissen verblasste, vergessene Kulissenbilder unvermittelt vor sein Erinnern. Hier war er Kind, Schüler, Lehrling, ein hochgemuter junger Mann. Heute, ja eben erst heute, vor wenigen Stunden, kurvte der neunundfünfzigjährige Hans Benedikter planlos, unüberlegt, blindlings aus der Wiener Leopoldstadt drei Stunden südwärts durch das Theresienfeld, über den Wechselpass, die Laßnitzhöhe, Graz rechts liegen lassend, über die Mur, an Lieboch, Lannach und Stainz vorbei nach Schwanberg. Der verlässliche Dieselmotor, der ihn schon zweihunderttausend Kilometer zu zahllosen Dienstorten und -anlässen gezogen hatte, brummte gefügig in diese schwankende, vertraute Fremde.

Die Wiederaufbau-Generation Wiens hatte Benedikter einst verstärkt, dafür den in den fünfziger Jahren noch schweren Ortswechsel vollzogen, dennoch war er jetzt - fortgeschrittenen Alters - im schweren Unglück: binnen dreier Wochen ohne Arbeit, aber auch ohne Wohnung! Opfer zweier stadtbekannter gerissener Abzocker! Ein Fabriks- und ein Bauhai - Dr. Icht und Dr. Gallunter. Diese verworrene, planlose Autoreise war eine verstörte Flucht.

Wieso sein Hirn und seine Hände ihn über den Donaukai, die Weißgerberlände zur Südosttangente, schließlich zur Südautobahn gelenkt hatten, er wusste es auch noch nicht, während er mit heißen Augen durch die Windschutzscheibe auf das endlose Straßenband vor sich starrte, dessen Schlingen er gehorsam folgte. War es Schwäche? Gefühlsduselei? Die Zwangshandlung eines Tieres in Lebensgefahr?

Er war heute früh vor den beiden Herren wortlos stehen geblieben, hatte sich abgewendet, nur sein Privatlexikon vom Bücherbrett genommen und das Büro verlassen ...

Die Steilstraße führte fünfhundert Meter von Rassach in den Johngraben abwärts zum Schluchtboden und drüben wieder hinauf nach Oberbergla.

Der Citroen rollte in den tiefen Graben zum Vocherabach, bis zum Talgrund der gewaltigen Landfalte, und auf der Gegenseite wieder hinauf; seit früher Kindheit war ihm dieser Canyon als Merkmal voller Annäherung an sein Heimatgebiet bekannt.

Das erste, das man von Schwanberg sieht, wenn man hinter dem Holleneg-Waldstück in die große Rechtskurve hinauszieht, ist der Blick auf die ferne Josefskirche, die von ihrem festen Vorbergkegel aus der massigen Waldwand des Limbergrückens herüberleuchtet.

Auf den letzten Kilometern vor Schwanberg passierte er auf der begradigten Bundesstraße bei Haderberg den Platz seines geschleiften Elternhauses. Es muss te in den frühen achtziger Jahren dem Verkehrsausbau weichen. An diesem seinem eigenen Ort hatte sich die Aussage erfüllt, wonach Berge abgetragen und Hügel aufgefüllt werden sollen, damit das Bessere käme. Auf der Straßenböschung fanden sich jetzt noch nach zwanzig Jahren beständige Kulturpflanzen aus dem einstigen Hausgarten seiner Mutter: seltsames Gesträuch hochstieliger Lilien. Benedikters Schulweg von Haderberg zum Marktplatz dauerte einst eine halbe Stunde. Jetzt lenkte er schon nach einer Minute an der Bildsäule unter der Riesenkastanie vor der Ortskreuzung scharf rechts zur Ortsmitte hinein. Gehen wie ein Fremder. Scheu prüft er, ob ihn jemand zweimal anschaut.

Ein Mann steht vor dem Nichts.

Was der Hauptfigur von Matthias Manders neuem Buch passiert, das passiert heute Tausenden jeden Tag. Wohin flieht er? Was wird er tun? Vorstehende Textprobe soll auf den aktuellen neuen Roman des sprachgewaltigen Stilisten Matthias Mander einstimmen.

Garanas oder die Litanei Roman von Matthias Mander, Czernin Verlag, Wien 2001, 352 Seiten, geb., öS 330,-/e 23,98

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