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Ein vorletzter Augenblick

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Im Märzschnee der pommer-schen Seenplatte liefen wir dann im Endspurt um die Wette. Den russischen Panzern hilflos preisgegeben, flüchteten wir in unzugänglichen Bruchwald oder ins Sumpfgelände, wo wir entweder sofort, das dünne Eis durchbrechend, versanken und erstickten oder dann doch auf den festeren Eisplatten langsam erfroren. Tödliches Risiko nahm auf sich, wer dem Kampfbereich entwischte. Wurden wir auf ungewissen Nebenpfaden ertappt, so knallten uns die Offiziere als Deserteure über den Haufen oder knüpften uns reihenweise an den Alleebäumen auf, um den bereits ins Chaotische ausufernden Rückzug durch Grauen einzudämmen.

Obwohl das Blut keine Macht mehr besaß, verblieb die Macht,Blut zu vergießen. Die Befehlswelt erwies ihre Absurdität darin, daß auch Niederlagen befehlsmäßig verankert sein mußten, um für zuverlässig zu gelten. Die Tapferkeit vor dem Feind und die Feigheit vor dem „Freund” sollten lük-kenlos ineinandergreifen, denn nur so kam es zur reibungslos funktionierenden Mordmaschinerie, die bis ins Unendliche klaglos weiterzulaufen versprach. Ohne offiziell staatliche Approbation kann keine Wirklichkeit gesellschaftliche Gültigkeit erlangen. Wer aber wagte es, sich als amtlich bestätigter Totenbe chauer eines Staates auszugeben, einer Partei, eines Abstrak-tums, eines lebendigen Leichnams, dessen Nägel aber noch gefährlich weiter wachsen? Erpicht lauerten Millionen auf den mit dem Reichsadler gestempelten Totenschein des Dritten Reichs, der Selbstanzeige eines Verblichenen.

Ende März fiel die Entscheidung. Während eines Jagd-Fliegerangriffs, der uns alle versprengte, verkroch ich mich immer tiefer in den gefrorenen Sumpf. Dessen Eiskruste besaß nach dem milden Winter nur noch geringe Tragfähigkeit. Waffenlos und auf allen vieren robbte ich ins Abseits, bis ich den Schilfgürtel des Sees fast durchquert hatte. Die Körperwärme verbot es, lang auf ein und demselben Platz auszuharren oder gar einzuschlafen.

Wiederum also, wie so oft in den vergangenen Jahren: Wache halten am Kristallsarg, in den das eigene Leben eingebettet worden war. Wachsam umherkriechen, mit einem Minimum an Bewegung, um sich am Leben zu erhalten, ohne den Verdacht zu erwek-ken, daß hier etwas am Leben sei. Die wattierte Kleidung sog die abgetaute Feuchtigkeit auf. In der Nacht wurde der verquollene Filz wiederum steif. Die Frostnadeln rieben sich nahe meiner Haut aneinander und knisterten. Dies war der,einzige Laut in vielen Stunden.

Die Stille, sich über mir ausbreitend, war nicht wiederzuerkennen, schien es doch, als sei die Zeit überhaupt ins Stocken geraten. Das milchige Winterlicht warf keinen Schatten, ließ die Stunden des Tages unterschiedslos und gleichwertig ineinander verrinnen, hinabgleiten in ein Zentrum des Endgültigen. Alle Möglichkeiten der Veränderung und des Geschehens waren dort eingefroren. Eine Uhr besaß ich nicht mehr. Dafür hatte ich hier die Schneekristalle auf dem Eis. In ihrer Sechsteiligkeit mit der Gabelung an jeder Spitze gaben sie ein Zifferblatt ab, allerdings eines ohne Zeiger. Auf dieser Kristalluhr war die Zeit symmetrisch wie ein Raumkörper um die Mitte gelagert: Achsenzeit, die sich selber nicht mehr dreht. Um die sich alles dreht. Ehemals hatte man sie die Fülle der Zeiten genannt „In plenitudine tempqrum” wurde das Kind geboren.

Nächtens aber geriet die Welt in Bewegung. Der winterliche Jäger Orion zog über die Seenplatte herauf. Er — ausgestreckt auf der Himmelswiese, und ich — auf dem Eis - glitten wir aneinander Stunde um Stunde vorüber, bis jeder in seinen Abgrund verschwand.

Langsam drehte sich mir in dieser Sternennacht mein Weltbild um: Bisher war ich Verkehrsteilnehmer an dem ewigen Zirkel gewesen. Nun aber war es die Ewigkeit, die an mir mit wechselndem Sternensignal teilnahm. Auf dem Eis liegend, verkörperte ich etwas Bleibenderes als die Sterne.

In der zweiten Nacht kam Orion nicht Es wurde trüber und wärmer. Uber dem schmelzenden Eis glitzerte die Feuchte, dann aber quollen die morgendlichen Nebelschwaden nach allen Seiten, umschmiegten die Haselsträucher und dann auch die Birken, als gelte es, die Trennung von fest, flüssig und dampfförmig in einem physikalischen Jenseits aufzuheben. Ein solcher Schwund aller Trennungslinien und gewohnter Zustandsf ormen machte mir Mut, mich ans Ufer heranzuwagen. Da richtete sich ein Gewehrlauf auf mich. Ich war an den Rand des Sumpfes geraten. Der Zeiger der Zeit war wiederum da und wies auf mein Herz. Noch im Liegen erhob ich die Hände. Von seinem sicheren Stand zielte ein Mann im weißen Eskimoanzug.

War er ein deutscher Deserteur gleich mir, warum hatte er dann nicht die Waffe abgeworfen? War er ein Russe, warum nahm er mich nicht gefangen? In seiner weißen Schneetarnung ragte er vor mir auf, ein Monument des Schweigens, und ging in Anschlag. Habe ich geschrien oder bin ich stumm zusammengebrochen? Habe ich ihn im Namen meiner Mutter angefleht und in welcher Sprache? Nach sechzig Stunden im Schilfeis war mir die Welt ein Kristall, jenseits aller Verlautungen. Weit und breit nur eine einzige Störungsstelle, und die stand mir gegenüber: ein schwarzes Mündungsloch, letzter Knall und Schrei.

An diesen Ort der Entscheidung bin ich später dutzendemal im Traum wiedergekehrt und habe vor dem Gewehrlauf immer wieder erfahren, wie in der Angst vor dem Nichts dieses unaufhörlich weiterwächst, sich verhärtet, auftürmt, so daß man — wie alt man auch sein mag — zuletzt vor dem sagenhaften schwarzen Diamantberg der Kindheit steht, an dem ein einziges Vögelein seinen Schnabel wetzt, nur um eine suggestive Allegorie zu liefern, wie unabsehbar monumental sich das Grabmal für jeden von uns ausnehmen wird.

Der Würgeengel kam auf mich zu, richtete seine Todeswaffe gegen mich, ließ den Lauf sinken, ging weiter, schwebte vorüber, ohne Wink, ohne Laut, ohne Kunde. Die Entscheidung über Tod und Leben war dem Hader der Völker entwunden und in die Hand eines einzelnen gelegt, eines Unbekannten, der es gewagt hatte, sich bewaffnet zwischen die Fronten zu stellen. Und dieser einsamste Kämpfer um die Freiheit, um einen mir unbekannten Fluchtweg zwischen Deutschen und Russen, wurde inmitten einer Mörderwelt nicht zum Mörder. Er drehte sich um und stapfte weiter in die Eiswüste hinein.

Aus dem Roman „Spaltklang”, der im kommenden Herbst im Verlag Niederösterreichisches Pressehaus, St Pölten, erscheinen wird.

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