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Das Abenteuer

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Eine Viertelstunde Weges, das ist für den Erwachsenen ein kurzes Stück. Jedoch für vier kleine, zappelige Kinderfüße wird so ein Abstecher leicht zur Weltreise mit allen Drum und Dran.

Durch den Marktflecken führte eine Straße. Außerhalb lief sie dann, eine Viertelstunde lang, offen und bieder zwi-Äcker und Wiesen hin. Nachher aber tat sie heimlich. Sie versteckte sich. Sie huschte in einen Fichtenforst und durchquerte ihn schnurgerade. Am andern Ende kam sie scheinheilig wieder heraus, als sei weiter nichts gewesen. Sie lief wieder brav zwischen Äcker und Wiesen hin, führte ab und zu an einem einzeln stehenden Gehöft vorbei und zielte schließlich ins Nachbardorf.

Zwei Kinder, zu anderer Zeit wohlbehütet, streng gehalten, vielleicht zu sehr behütet, zu streng gehalten, waren eben darum an einem Samstagnachmittag, als alles beschäftigt war, verschmitzt lächelnd ausgerückt. Das Mädchen mit seiner Puppe. Der Bub mit einem winzigen Leiterwagen.

Aus dem Markt kamen sie ins Offene hinaus. Sie trippelten Hand in Hand die Straße fort. Immer nur die Straße fort. Nein, die Straße wollten sie nicht verlassen. So gescheit waren sie schon. Neugierig beguckten sie die Anger, die Felder. Noch war ihnen alles bekannt. Dieses Wegstück waren sie des öfteren mit ihren Eltern entlang gekommen.

Doch nun standen sie vor dem Forst. Ihn zu betreten, war ihnen bei Strafe untersagt. Sie staunten in die grüne Straßenschlucht hinein wie in eine Zauberröhre. Am Ende, winzig, stand ein Stückchen Himmelblau. Nichts sonst.

Es waren zwei Menschenkinder. Die Urschuld trieb einen neuen Sproß. Das Verbotene lockte. Das Mädchen tat die ersten Schritte in das Wagnis hinein. Der Bub folgte. Ein Stückdien der neuen Erkenntnis wollten sie sich gönnen. Einen Apfelbiß. Sie gingen und gingen. Bis zur Mitte etwa gingen sie vor. So! Bis daher! Nein, weiter nicht!

An dieser Stelle wurde damals die Straße ausgebessert. Aber nun war der Arbeitsplatz bereits leer. Auf beiden Seiten der Straße lagen, zum Teil die Graben füllend, die Schotterhaufen. Hier machten sie halt. Hier begannen sie zu spielen. Erst bauten sie allerhand mit den Steinen.

Nachher luden sie etliche davon ins Wägelchen. Sie fuhren damit hin und her, in die Kreuz und Quer und auch rundum im Kreis. Sie ließen die Puppe aufsitzen und den Kutscher machen. Ein Zweiglein bekam die Puppe als Peitsche unter den Arm geklemmt, und die Rösser, nun, das waren sie selbst.

So. Nun war es genug. Es begann zu dämmern. Sie mußten an den Heimweg denken. „Komm, gehen wir!“ sagte das Mädchen. „Ja, gehen wir“, sagte der Knabe.

Zurück, hieß das. Jetzt erst merkten sie aber, daß sie eigentlich nicht mehr wußten, wohin sie sich wenden sollten. Unheimlich rauschten die Bäume. Oh, sie waren immer hübsch auf der Straße geblieben! Nein, auf die Schneisen da und dort hatten sie sich wohlweislich nicht eingelassen. Gewiß auch, sie standen fest und sicher auf der Straße. Sie blickten rechtshin. Sie blickten linkshin. Unheimlich rauschten die Bäume. Am Ende der Straßenflucht stand da wie dort ein Ausschnitt Himmel. Nur war er jetzt grau geworden. Es dämmerte. Unheimlich rauschten die Bäume. Woher waren sie eigentlich gekommen? Von dieser Seite? Von jener Seite? Sie wußten es nicht mehr. Es sah der eine Ausgang dem andern gleich. Ein Baum dem andern. Ein Schotterhügel dem andern. Der eine Weg mußte der richtige sein, sicherlich, und der andere war der falsche. Aber welcher war nun der richtige? Sie wußten es nicht. Sie entschieden sich für einen, schon etwas bang, für irgendeinen, helfe uns Gott, und den stapften sie fort. Zum Glück wurde das Loch am Ende größer und größer. Sie kamen ins Freie hinaus. Aber alles war so anders. Vom Markt, in den sie zurück wollten, war nichts zu sehen.

Sie fürchteten sich sehr. Sie begannen zu heulen. Um auf der Stelle einfach umzukehren, dafür waren sie schon zu ratlos und verwirrt. Zuviel war mit einemmal in ihnen zusammengebrochen. Also zottelten sie weinend auf den ersten Einschichthof zu. Die Bauersleute waren bereits beim Lichtmachen. Der Kettenhund empfing sie mit höllischem Gebelfer. Sie fürchteten sich sehr.

Nun war aber freilich alles bald aufgeklärt. Die Bäuerin tröstete sie mütterlich. Sie versprach sogleich, die beiden Ausreißer heimgeleiten zu lassen. Ihr älterer Bub, der schon aus der Nachmittagsschule zurück war, schloff also auf ihr Geheiß nochmals in seine Holzschlapfen. Er nahm die zwei Kinder bei der Hand. Er brachte sie zurück, durch den bösen Forst zurück in den Markt. Ungern. Er hatte anderes mit seiner Zeit vorgehabt. Und so versäumte er nicht, ihnen den Empfang daheim schwarz in schwarz auszumalen. Sie ängstigten sich sehr.

Es wurde zwar nicht ganz so schlimm, wie sie befürchten mußten. Doch darüber schweige die Chronik!

Aber von dieser Stunde an besaßen die Kinder, schuldhaft geworden und auf ihre Art aus dem Paradies vertrieben, einen deutlichen Vorgeschmack vom Irrgarten des Lebens. Sie wußten jetzt, daß, wer dem Vater nicht folgt, allzuleicht verlorengeht und dann vom Erzstiefvater dieser Welt in seine Butte genommen wurde.

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