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Das Lächeln des Engels

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DER FREUNDLICHE HERR mit dem weißen Spitzbart deutet auf eine grüne Linie im Norden, als sich die Route Nationale 36 bei Neufchelle dem Ourcq nähert. „C'est la foret domaniale de Retz“ sagt er, und fügt hinzu, das wäre für mich eine Erinnerung an Österreich, denn, wie er sehr wohl wisse, gebe es im Weinland dort ein Retz, und sich dessen in dem Augenblicke zu entsinnen, da man einem berühmten Weinstrich, der Champagne, entgegenfahre, wäre nur stimmungs-fördernd. Der freundliche Herr kann aber noch mit anderen Parallelen dienen: Auf der entgegengesetzten Seite, 120 Kilometer östlich, wäre ich dem Namen nach neuerlich daheim. An der Route departementale 63 liegen nämlich Vienne-la-Ville und Vienne-le-Chäteau. Dazwischen aber erstreckt sich, ungefähr in der Form eines Kreisbogens, die Champagne. Frankreich kennt zwar in anderen Provinzen diesen Namen auch, das flache Land ist „Champagne“ genannt; aber es gibt nur eine Champagne, die das Herz freier schlagen läßt, deren Hügelwellen dahinfließen wie Musik beim Wein, nur eine Erde gleicht jener der Champagne, nur einen Himmel von solch sanfter Bläue und ahnungsvoller Weite, Sehnsucht und Erfüllung verschwi-sternd. Es ist das Gebiet der Departements Aube, Marne, HautMarne, Ardennes und teilweise Yonne. Mißgelaunte haben der Erde hier nachgesagt, sie staube im hohen Sommer, sie dehne sich breiig im Herbstregen: aber dieser Staub flimmert wie Silber in der Bläue des sonndurch-flammten Himmels eines Champagnesommers, und in der verhaltenen Wehmut des späten Herbstes duftet der Boden unter dem sanften Regen wie frischgeröstetes Weißbrot. Mitteninne aber in dieser Landschaft waltet „le sourir de Tange de la cathedrale des rois de France“, das Lächeln des Engels der Verkündigung am Mittelportal der siebenhundertfünfzig Jahre alten Kathedrale, sie selbst geformte, erlebte, erlittene Geschichte wie der ganze Landstrich der Champagne.

DER ERZBISCHOF ST. REMI taufte in Reims am Ende des 5. Jahrhunderts Chlodwig, und diese Taufe war der Ursprung der Salbung, die fast alle französischen Könige empfingen — die berühmteste dieser Feierlichkeiten war jene vom 17. Juli 1429 in Gegenwart der Jeanne d'Arc, „die im goldnen Harnisch vor dem König herging mit der Fahne“, wie dies Schillers Phantasie in seiner romantischen Tragödie schildert. Die Gegenwart ist weniger romantisch, und die vergangenen Jahrzehnte waren es noch weniger.

Man könnte eigentlich eher fragen, wann man sich um Reims oder um die Champagne nicht geschlagen hat, als wann man dies tat. Der große Korse hat noch am 13. März 1814, als sich sein Stern neigte, Reims den Alliierten entrissen. In dem Augenblick, da ich von der Rue de Vesle zum Musee des Beaux-Arts in der Rue Chanzy einbiege, taucht das überdimensionale Bild Napoleons auf der Front eines Kinopalastes in der Rue de Clichy in Paris vor dem Gedächtnis auf — man spielte gerade „Austerlitz“. Zufällig erklang damals, wie jetzt in der Rue Chanzy, die gleiche graziöse Weise eines Menuetts, und das Wortspiel auf dem Plakat fällt mir eigentümlicherweise sogleich ein: „Poudre et Bals, Poudre et Balles.“ Den Puder der Vergangenheit hat hier in Reims das Pulver weggefegt: im ersten Weltkrieg mußten die Deutschen nach zehn Tagen am 13. September als Folge des Ausgangs der Schlacht an der Marne die Stadt Reims räumen, und vier Jahre hindurch lag die unglückliche Stadt knapp an der Front. Von 14.000 Häusern sanken 12.000 in Schutt und Asche. Die Kathedrale wurde von 287 Granaten getroffen, als die Stadt noch nicht von der Bevölkerung geräumt war; niemand mehr hat hernach die Treffer gezählt, die das ehrwürdige Haus in der Folgezeit noch trafen, das ausbrannte, dessen Gewölbe zum großen Teil einstürzten. Eine besondere Stiftung Rockefellers hat die Erneuerung mit einem Kostenaufwand von 38 Millionen alten Francs ermöglicht. Am 10. Juli 1938 wurde die erneuerte Kathedrale feierlich geweiht. Ein Jahr später brach der zweite Weltkrieg aus, der neuerlich ein halbes Tausend Häuser in Trümmer legte. Noch jetzt, bei meiner letzten Anwesenheit war es zu sehen, arbeitet man an der Erneuerung der Fassade der Kathedrale, und zwar an der linken Seite, die den Weltenrichter und das Weltgericht zeigt.

ZUR PORTE MARS, dem bedeutendsten römischen Triumphbogen nach jenem von Orange, aus dem 2. Jahrhundert stammend, führen der Boulevard Foch und der Boulevard Joffre: kriegerische Erinnerungen, wie das Gefallenendenkmal von Roger nicht weit davon, wahrlich genug. Nein, es fehlt nicht an Historie. Werra man die Eisenbahnstrecke überschreitet, gelangt man in die Rue Franklin Roosevelt. Von einem Hause — es trägt die Nummer 10 — flattern im trägen Nachmittagswind Fahnen, und das einträchtige Nebeneinander der Trikolore, des Union-Jack und der roten Fahne mit Sichel und Hammer wirkt in der Zeit, da sich die Sieger von 1945 nicht mehr so einträchtig gebärden, seltsam genug an. Hier, Rue“ Franklin Roosevelt 10, im College Technique et Moderne befindet sich die Salle de la Reddition, wo am 7. Mai 1945 die deutsche Kapitulation unterzeichnet wurde. In diesem Hause hatte damals General Eisenhower sein Hauptquartier. Der Raum, zur Besichtigung freigegeben, stellt nur einen Teil des großen Saales dar, der im ersten Stock liegt. Mit Ausnahme von kleinen Änderungen in der Möblierung befindet sich der Raum in dem gleichen Zustand, in dem er sich am 7. Mai 1945 befand. Zuerst fallen die großen Karten an den Wänden auf, welche den Stand der Operationen zu jenem Zeitpunkt zeigen: die deutschen Delegierten — es waren JodI, Friedeburg und Oxenius — saßen mit dem Blick zu den Karten. Der vom Bürgermeisteramt herausgegebene Führer betont: „En levant les yeux, les Allemands pouvaient se rendre compte de la puissance coalition alliee.“ (Wenn sie die

Augen hoben, konnten die Deutschen sich Rechenschaft geben über die Kraft der alliierten Koalition.) Den Deutschen gegenüber saßen in langer Reihe die alliierten Delegierten gleich Richtern. Der mächtige Tisch zeigt eine geschwärzte und verschmutzte Platte, als wären auch über sie die Verwüstungen des Krieges hinweggegangen.

DIE STADT REIMS zählte, als der erste Weltkrieg ausbrach, mehr als 115.000 Einwohner. Sie hat allen Widrigkeiten zum Trotz nieder eine Bewohnerschaft von 121.000. Industriell ist die Stadt in Textilien führend, bedeutend aber auch in der Metallurgie und Linoleumerzeugung. Die Feinschmecker schätzen den Reimser Schinken, die Lebkuchen und Biskuits. Von den Champagnerkeüereien braucht man nichts mehr zu erzählen. Eine der Hauptattraktionen für die Rundfahrten sind in erster Linie diese in die Tertiärstufe eingegrabenen tiefen Gänge, die — wie etwa im Osten von Saint-Remi — sich in zwei Stockwerken achtzehn Kilometer lang erstrecken. Auf kulturellem Gebiet hat sich die Stadt durch ihre Ecole Nationale de Musique, durch die Ecole Regionale des Beaux-Arts und ganz ohne Zweifel durch ihr ausgezeichnetes Musee des Beaux-Arts einen Namen gemacht. Als ich dort war, gab es gerade eine vorbildlich gegliederte Marc-Chagall-Ausstellung, die neben Graphiken auch gemalte Fenster und Entwürfe zeigte. — Berühmt ist die Kollektion Corot (an die dreißig Stück sind zu sehen); daneben stehen die berühmtesten Namen: Boucher, Dau-mier, Millet, Delacroix, Courbet, Rousseau, Monet, Sisley, Pisarro, Gauguin, Renoir, Matisse und Picasso. Die Worte von La Fontaine, der aus der Champagne (Chäteau Thierry) stammt, haben eine ungewöhnliche Ausweitung erfahren: „II n'est cite que je prefere ä Reims. C'est l'ornement et l'honneur de la France.“

WOHIN IMMER VON REIMS DIE WEGE FÜHREN, über kurz oder lang wird man Denkmälern und — Friedhöfen begegnen. In einem Umkreis von etwa sieben Kilometern kommt man an den früheren Forts von Witry und No-gent-I'Abbesse vorbei, von wo die Deutschen Reims unter Feuer hielten. Das Fort de la Pompelle, sieben Kilometer südöstlich von Reims an der Route Nationale 44, heute nur noch ein Haufen von Steintrümmern, gilt als historisches Denkmal und darf nicht verändert werden. Wenn man von der immerhin ziemlich befahrenen Straße abweicht und in die Landschaft nördlich geht, erreicht man in der Nähe von Soissons ungefähr die Frontlinie von 1914—17; unfern erheben sich die Hügel, die als Chemin des

Dames traurige Berühmtheit erlangt haben: das ist auf schmalem Rücken ein Kammweg, der zwischen der Aisne und Ailette verläuft, deren Täler er mit einer Höhe von 120 Metern überragt. Vielleicht trügt die Einbildung, aber manches Mal kommt einem die Vegetation dürftig vor, zu dürftig im Vergleich mit der noch eine Stunde vorher gesehenen Landschaft. Keine Einbildung aber ist das Schweigen, das über allem liegt. Hierher verirren sich keine Besucher der Kellereien von Clicquot-Ponsardin, Heidsieck oder Mumm. Es ist schon viel, hört man einen Vogel hangaufwärts zwitschern oder im gelblichen Gras eine Maus rascheln.

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