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Der „17. Juli“

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In dem Roman „Die falsche Zarin“ hat Alja Rachmanowa nach gewissenhafter Quellenprüfung von dem abenteuerlichen Leben und Tod jener seltsamem schönen und klugen „Prinzessin Tarakanowa“ erzählt, die lange Zeit als Tochter Elisabeths und Enkelin Peters des Großen galt und von Gegnern Katharinas II. in Europa als Kronprätendentin präsentiert wurde. Anders scheint der Fall in unseren Tagen zu liegen, da das Rätsel um „Anastasia, die letzte Zarentochter“ eine Reihe von Abkömmlingen der Romanows, interessierte Exilantenkreise und — die Bank von England beschäftigt. Es steht die These, daß den russischen Revolutionären am 17. Juli 1918, als sie im Angesicht der heranrückenden Koltschak-Truppen in Jekaterinburg den Zaren Nikolaus IL, die Zarin, den Thronfolger und die vier Töchter des Zaren erschossen, die jüngste der Zarentöchter, Anastasia, schwer verletzt entrann und nach abenteuerlichen Schicksalen über Rumänien nach Deutschland gelangte. Der heute 5 5jäh-rigen, in einer Baracke im Schwarzwald völlig zurückgezogen lebenden Frau, die sich als Anastasia bekennt, ist seither nichts erspart geblieben. Ein kluger und taktvoller Filmautor und Regisseur brauchte nichts anderes zu tun, als die einzelnen Stationen dieser menschlichen Passion oder Kriminaltragödie: Selbstmordversuch, Internierungen in Irrenhäusern, Arresten und Privatwohnungen, die Gegenzüge der eigenen Sippe, Enttäuschungen durch Freunde und Interessenten an den noch heute auf der Bank von England erliegenden 20 Millionen Goldrubel sauber und korrekt zu klittern; kein menschliches Gehirn könnte noch Teuflischeres oder — Menschlicheres zu dem erfinden, was diese Anastasia bis heute durchgemacht hat. Falk Harnacks Film, geschult an den erregenden und unheimlichen Ereignissen um den deutschen „20. Juli“, hat das Drama Anastasia mit dem gleichen kalten Feuer von dokumentarischer Treue und Echtheit inszeniert wie im Vorjahr '•-die Stauffenberg-Tat. Aus Zeugnissen lebender Personen, Polizei- und Prozeßakten sprang der Funke einer trotz allen zeitgemäßen Formen Tragödie von antiker Wucht und Gnadenlosigkeit. Eine herbe, große Darstellerleistung Lilli Palmers führt die Anastasia über alle Gipfeln und Abgründe in letzte menschliche Einsamkeit Und Verlassenheit und rückt den Film weit ab von den üblichen „Orlow“- und „Kurien-Filmen und anderen Sphinxen ohne Geheimnisse in eine Sonderklasse von zeitgeschichtlichen Doku-mentar-Spielfilmen, die heute und noch mehr vielleicht morgen Achtung und Beachtung verdient.

Die Uebertragung der Oper „Carmen“ in die Zeit und das Klima des schwarzen Amerika von heute, also „Carmen Jones“, bedeutet an sich nicht das gleiche Sakrileg wie die Rangerhöhung des shakespearischen Königs Macbeth von Schottland zum Gangsterboß von Chikago. Ja man war sogar konservativ und beließ Bizets Musik nahezu im eigenen Saft, ohne was herum und ohne Swingklarinette. Auch was die Hautfarbe betrifft, mögen manche zwischen Sevilla-Zigeunern und Los-Angeles-Negern keinen unüberbrückbaren Gegensatz, eher eine pikante Nuance in der Mischung erblicken. Der Mißgriff des neuen, vielgerühmten' Films liegt vielmehr darin, daß man aus Bizet nur die sinnlichen, elektrisierenden Rosinen pickte und zu saftigen, schmatzend zu genießenden Sex-Trauben aufschwellte. Nicht am „Fallschirmkleben“ beginnt die Carmen-Jones-Rolle zu wackeln, sondern — siehe die unnotwendige Ausbiegung aus dem Bizet-Schluß! — an ihrer modernen Flittchenhaftigkeit, wie auch sonst der ganze Film überreizt und überheizt anmutet.

Das kann man von dem französischen Film „Gier nach Liebe“ nicht mehr sagen, denn die Art, wie Brigitte Bardot ein- und ausgekleidet durch den Film schreitet, wirkt ganze Strecken lang nur noch erheiternd. Der ganze Konflikt des ganzen Films wäre futsch, Not und Tod blieben uns erspart, wenn das lose Mädchen in der ersten Einstellung einen anderen Pullover trüge. Aber das kommt davon, wenn man an der unrechten Stelle spart.

Der „Schneider Wibbel“ auf der Bühne ist so etwas wie eine Komödien-Taschenausgabe des „Lebenden Leichnams“ (Henny Porten und Jannings haben ihn auch schon im Film nachgespielt, sehr traurig und sehr tragisch). Das letztere liegt natürlich Rühmann nicht. Sein „Sonntagskind“ wurzelt weder in der Tragödie noch in der Komödie, sondern im Volksstück Es wird ein lieber, herzlicher Film daraus, der nur an einer gewissen Larmoyanz gegenüber der britischen Besatzungsmacht leidet. Gerade das aber steht dem Volksstück nicht gut. Wäre Nestroy 1945 am Leben gewesen, hätte er die Großen Vier in einem Jahr hinausgebissen.

Filmschau (Gutachten der Katholischen Filmkommission für Oesterreich), Nr. 41 vom 20. Oktober 1956: III (Für Erwachsene und reifere Jugend): „Die Spur führt zur Todesklippe“, „Das Sonntagskind“, „Die gestohlene Hose“ — IV (Für Erwachsene): „Das Lied der Straße“ — IVa (Für Erwachsene mit Vorbehalt): „Carmen Jones“, „Zu Befehl, Frau Feldwebel'' — IVb (Für Erwachsene mit ernstem Vorbehalt): „Gier nach Liebe“.

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