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Der alte Priester

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In unseren Kindestagen spielten wir noch den Burenkrieg. Hie stand das „winzige Häuflein des freiheitsliebenden Burenvolkes*, da die Briten, die Tyrannen, die mit rücksichtslosem Eifer die Helden der Freiheit niedertrampelten.

Eines Sonntags versammelten wir uns vor dem Kirchgang in der Klasse. Da brach der Burenkrieg wieder aus.

Im allgemeinen wollte jeder ein Bure sein. Die Starken und die ellbogengewandten Gewaltsamen ernannten sich sogleich zu aufständischen Buren und warben Krieger unter ihre Fahnen. Einige Buben, die herumsinnierten und unschlüssig blieben, die Schwachen und Kümmerlinge, wurden kraft der natürlichen Auswahl und des Terrors der Mehrheit Briten. Auch mir fiel meist diese Rolle zu.

Damals schämte ich mich deswegen sehr.

Bisher habe ich es streng verschwiegen.Nun erzähle ich es aber, da ich mich inzwischen unterrichten konnte, daß es gar nicht so beschämend ist, einem Volke anzugehören, das den Liberalismus und den Welthandel erschuf und der Welt Männer wie Hume, Newton und Shakespeare schenkte. Uber die Tätigkeit der Buren in dieser Zeit konnte ich allerdings nichts erfahren.

Außerdem lagen die Aussichten des Kampfes in unserer Schule stets so, daß es eines weit größeren Mutes bedurfte, ein Brite zu sein als ein Bure. Das Verhältnis war nämlich völlig verkehrt. Das „winzige Häuflein des freiheitsliebenden Burenvolkes“ ritt das hohe Roß, puffte und boxte die Briten, versetzte den Tyrannen Kinnhaken und Schläge in die Magengrube, so daß die Armen gleich anfänglich zu Boden gingen.

So lag auch ich im Staube des Klassenzimmers, über mir die prallen Knabenkörper, die sich balgend zu unruhig wimmelnden Schichten verbanden.

Plötzlich ging die Tür auf und unser Lateinprofessor„ der gleichzeitig unser Klassenvorstand war, trat ein.

Priester, kluge, tüchtige Priester, haben uns erzogen. Sie wachten mit väterlicher Güte über unser leibliches und seelisches Wohl.

Unser Lateinprofessor galt als ganz besonders streng. Vor ihm zitterten wir alle. Nach seinem Verlangen hätten wir die unregelmäßiaen Verba selbst kn Traum nicht verfehlen dürfen. Wehe dem, der einen Schnitzer verschuldete; den nannte er einen Schurken. Nein, beileibe nicht aus Unduldsamkeit oder Verblendung, denn er hegte in tiefster Seele die Überzeugung, daß ein Mensch, der sich für die lateinische Sprache nicht erwärm! und den Fall der unregelmäßigen Verba nicht als seine Herzenssache betrachtet, ein Auswurf der Gesellschaft, ein Schurke und Vaterlandsverräter ist.

Als seine Gestalt in der Tür erschien, schlössen die Feinde, die eben nodi in grimmstem Kampf rangen, ohne die geringste Aussicht auf eine Entscheidung durch die Kraftprobe, plötzlich Frieden. Jeglicher sprang zu seinem Platz in die Bank. Ich taumelte als letzter aus dem Staube hoch, da ich zuunterst gelegen war.

Unser Lateinprofessor sagte kein Wort; er schüttelte bloß spöttisch den Kopf und sah mir mißbilligend nach, wie ich unter Bücklingen in meine Bank schlich.

Erst während der Messe merkte ich, | daß in meinem neuen Frühlingsanzug, den ich an diesem Tag zum erstenmal anziehen durfte, ein mächtiges Loch klaffte. Mein Rock erhielt im Kampf eine schwere Wunde.

Ich wußte gleich, was dies zu bedeuten hatte. Bemerkte mein Vater den Riß im Rock, standen mir eine tüchtige Tracht Prügel bevor. Vorläufig bedeckte ich ihn mit der flachen Hand, ganz wie eine | Wunde, damit sie genese. Doch kaum zog ich den Handteller weg, fiel der schwer verwundete Stoff kraftlos herunter. Die Verletzung schien unheilbar.

Nach der Messe stand der Lateinprofessor vor der kleinen Kapelle.

„Was weinst du da?“ erkundigte er sich streng.

„Man hat ihn zerrissen“, stotterte ich • hervor, und wies auf den verwundeten Rock.

„Siehst du nun den Erfolg? Es geschieht dir ganz recht, du Nichtsnutz!“

Er betrachtete meinen Rock und schien etwas zu überlegen. Dann vernahm ich sein Wort:

„Komm mit!“

Ich schritt hinter ihm her über einen 5 langen, dunklen Gang. Seine Zelle war am Ende des Ganges die letzte. Er

öffnete die Tür mit einem mächtigen Schlüssel und hieß mich, ihm zu folgen.

Die Zelle war winzig klein. Vor den Eisengittern der Fenster standen Blumentöpfe. An der gelben Wand zeichnete die Nässe dunkle Flecke, sonst zierte sie nur ein Kruzifix und ein Bild der Jungfrau Maria.

„Zieh den Rock aus“, befahl er mir.

Ich hatte keine Ahnung, was nun folgen sollte. Zuerst meinte ich, er beschlagnahmte meinen Rock und überreichte ihn als Corpus delicti dem Direktor. Sicher folgte dann ein schreckliches Disziplinarverfahren mit unüberblick-baren Folgen. Ich zog den Rock wortlos aus. Er übernahm ihn ebenso wortlos.

Mit dem Rock nahm er nahe beim Fenster Platz, holte eine riesige Schatulle hervor und kramte endlos lange in ihr herum. Dann setzte er die Brille auf die Nase und nahm Nadel, Zwirn und ein Stoppholz zur Hand. Das Zwirnende benetzte er fachmännisch und stach mit ihm gegen das Nadelöhr. Schließlich glückte es ihm, den Zwirn durch das Nadelöhr zu ziehen. Nun begann er zu nähen. Er nähte an meinem Rock.

Er nähte mit der Geläufigkeit einsamer Männer, aber es dauerte dennoch lange, sehr lange, bis er mit der Arbeit fertig wurde.

Inzwischen konnte Ich mir über das Geschehene meine Gedanken machen.

Zuerst stutzte ich, daß er mit einem Nichtsnutz gemeinsame Sache macht und eine Tat, die er bestrafen müßte, wie ein Spießgeselle deckt, überdies war das Nähen am Sonntag verboten. Dieser Tag sollte der Rast, der Besinnung und anderen gottgefälligen Taten dienen. Wer am Sonntag näht, begeht eine schwere Sünde. Und ich grübelte nach, ob ihn diese Sünde nicht zur ewigen Verdammnis in die Hölle bringt.

Nun aber weiß ich, daß es nicht der Fall ist. Wenn ich seither von heiligmäßigen Menschen reden höre, stelle ich mir immer darunter auch meinen alten Priester mit Nadel und Zwirn vor und mit einem Stoppholz.

Genehmigte Übersetzung' aus dem Ungarischen.

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