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DER JÜNGERE BRUDER

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Adam rannte, stolperte, weinte, die salzigen Tränen rannen ihm aus Augen und Nase, er verschmierte sie mit seiner schmuddeligen Faust.

„Pirat! Blöder Hund! Hornochs!“

Schluchzend stieß er die Flüche aus, zu denen - nur das schrecklichste der schrecklichsten Gefühle zwingt — Ohnmacht.

„Pirat! Blöder Hund! Hornochs!“ — wiederholte er und verlieh jedem Ausruf durch einen Fichtenzapfen Nachdruck, den er ins Dickicht pfefferte. Es knackte, ein orangeroter Drosselschnabel flatterte auf, ein Vogel-Morse-Abc.

Von Zeit zu Zeit dröhnte die Röte Brücke unter dem Stampfen eines D-Zuges, auf der Chaussee hupten Verführer in Felicia-Sportwagen, doch das waren Laute, die nicht in den Wald paßten. Hier, unter Buchen, von Stämmen ummauert, fühlte sich Adam sicher. So sicher, daß er es sich erlauben konnte, laut zu heulen wie ein Mädel. ,

Er drehte sich um, schleuderte noch einen Zapfen dahin, wo der Kuckuck rief und, weit in der Ferne, Inkas Lachen prustete, wischte sich die Nase am Ärmel, doch das Naß troff zu reichlich. Dann langt er in die Tasche und fördert ein Stück von einem Waschschwamm ans Licht, einen Haken, zwei Bucheckern und eine hundert Jahre alte steinharte Karamelle. Sein Taschentuch fand er nicht.

Er flennte nicht mehr, nur in seiner Lunge blieb eine Blase stecken, geschwollene Trauer, man konnte sie fühlen.

In das grünliche Wasser des Baches tauchten die Weiden ihre grünen Schöpfe. Adam schnitt fünf Ruten ab, ließ sich ins Gras nieder, wo hunderte Tausendschön blühten, und begann eine Ostergerte zu flechten.

Ein schwarzes Huhn setzte sich auf seine achtjährige Welt.

Inka studierte Naturwissenschaften. Adam wußte, daß das Mistkäfer, Würmer, Gräser und Hundeknochen bedeutete. Aber wenn die Mutter Naturwissenschaften sagte, so klang es wie ein Triumph. Die Naturwissenschaften waren ihre Genugtuung, waren ihre süßeste Schokolade für ein Leben ohne Kino, für Frühaufstehen und späte Heimkehr von verlängerten Schichten. Die Naturwissenschaften waren ein süßes Pflaster auf den Tag, als der Vater „bei dieser Schlampe“ blieb und sie mit Inka und dem kleinen Adam sitzen ließ.

Inka war zart, „du mußt sie behüten“, befahl die Mutter dem Buben. „Du mußt aufpassen, verstanden? Sie darf nicht allein auf den Hügeln umherstreifen.“

Adam schien es lächerlich. Er war acht, und Inka achtzehn. Doch Mutters Argumente stützten sich auf einen Kochlöffel aus Lindenholz. Wenn er in Aktion trat, bekam man blutige Striemen. Adam streifte also mit Inka auf den Hügeln des Eisernen Brünneis umher, preßte mit seiner Schwester keimblättrige Moos- und Blätterpilze, suchte mit ihr am botanischen Atlas nach den lateinischen Namen und fahndete nach Larven, die an Buchenrinden klebten — bis Makudera auftauchte.

Der erste Jüngling, der Inka das Herbarium trug, war von dicken Brillenrändern eingerahmt. Adam bekam eigentlich nie heraus, ob er prima war oder ein Wichtigtuer. Durch die Gläser sah man ihm nicht in die Augen. Er hieß Makudera.

Als sie zum erstenmal alle drei an den Rand des Eisernen-Brünnel-Parks kamen, Inka in roter Bluse und einem Plisseerock, der ihr knapp über die Knie reichte, ein Silonkörbchen am Arm, ein kindliches Lächeln auf den Lippen und den Schatten des Bruders im Trainingsanzug auf den Fersen, schaute Makudera sich um und winkte Adam mit seinem blaubraunen Finger heran. Seine Hände waren merkwürdig gefärbt — er war Chemiker.

„Hör mal, Tausendfüßler“, sagte er, „möchtest du eine Bussole?“

Adam wußte nicht, was eine Bussole ist, sagte aber rasch: „ja.“ Seine Mutter hatte ihm von klein auf eingeschärft: Wenn man dir gibt, dann nimm! .

„Also, dann geh hier ein bißchen spazieren! Inka und ich müssen dort noch hinauf, dort blühen Farne, aber dich könnte eine Schlange beißen. Wenn du schön brav wartest, kriegst du eine Bussole.“

Adam ließ sich auf dem eisernen Gitter nieder. Er wartete eine Stunde, fünf Stunden, hundertzwanzig Jahre.

Als Inka und Makudera in der Ferne auftauchten, dämmerte es schon. Sie hielten einander an den Händen und lachten. Adam flitzte ihnen entgegen:

„Na? Habt ihr was gefunden?“

„Was denn?“

„Eine Farnblüte!“

Sie schauten einander an mit seltsamen Augen.

„Ja“, sagte Makudera. „Aber wir mußten sie lange suchen. — Morgen bringe ich dir eine Trillerpfeife mit.“

Anderntags bekam er die Pfeife. Adam hängte sie sich um den Hals, fand am Bach ein Rudel Buben, die Fußball spielten, und sein Pfeifen machte den Loks auf der Brücke Konkurrenz.

Aus Makudera holte er noch zwanzig Murmeln heraus, einen Stein mit Adern aus echtem Silber und eine Tüte Eis. Seine Millionärskarriere hatte begonnen.

Der zweite in der Reihe war ein Geck aus dem achten Semester, der Sohn eines Arztes. All diese Eigenschaften bewirkten, daß Inka sich völlig wandelte. Mit Makudera hatte sie geschäkert, war herumgehopst wie ein kleines Mädel. Neben Mila — auch sein Name war fein gebügelt wie die blütenweißen Hemden, in denen er sie auf der Jagd nach Mistkäfern begleitete — war sie zahm. Adam hörte sie sagen, „sie liebe die Sterne“. So etwas hatte er nie an ihr gemerkt. Wer „die Sterne liebt“, sollte nicht um neun Uhr schon schnarchen wie ein Nilpferd.

Der Jüngling des achten Semesters trug Inkas Atlas bloß in der Saison der Kreuzblütler (Kohl, Raps, Hederich, vier Blütenblätter, sechs Staubgefäße, ein Stempel).

Adam knöpfte ihm nebst dem Federmesser und der Taschenlampe noch einen Fußball und eine Silonschnur ab. Teure Sachen, denn der Sohn des Doktors war ein Krösus, ein Parvenü. Er plante, ihm noch eine Wasserpistole und einen Angelhaken mit einem glitzernden Blinkerfischchen herauszuschinden, das einen Hecht köderte wie nichts. Doch zum nächsten Rendezvous erschien Mila nicht mehr.

Inka schwieg den ganzen Nachmittag. Auch Adam schwieg. Er wußte, was eine Beleidigung ist.

„Wenn ich ihn treffe, schlage ich ihn, ja? Oder ich spucke ihm auf die Mokassins.“

Schweigend drückte ihm die Schwester die lehmverschmierte Hand.

Sommer, Winter, Frühling.

Sie trafen ihn an der Bushaltestelle, ein bärtiger Langer. Inka steckte sich einen Fliederzweig an das rote Blüschen und sagte leise: „Wenn Sie ihm etwas versprächen, würde er weggehen. Eine Pfeife oder irgend etwas.“

Adam blickte dem bärtigen Langen jäh ins Gesicht. Der schaute mit Blicken, die keine Arglist kannten:

„Ach lassen Sie ihn doch, Inka, ich mag ihn.“

Eine schmerzliche Wärme durchflutete den Buben.

Auf einer Erle schnarrte eine unsichtbare Stimme.

„Weißt du auch, was das für ein Vogel ist?“

Der Junge schüttelte den Kopf und dachte: „Einmal wird im Dachgeschoß ein Brand ausbrechen. Dann rette ich ihn.“

Jetzt hatte er einen Bruder. Einen Vater. Er hatte ein Idol. Inka hielt sich die Hand vor dem Mund und gähnte.

Die Tür des Busses ging zischend auf. Adam sprang heraus. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, im Kopf, im Magen, er rannte. Der Lange war noch da. Er saß auf einem Stein, das bärtige Kinn in die Hände gestützt, als wäre es ihm zu schwer.

„Mutter hat sie nicht fortgelassen. Sie muß — sie muß Kartoffelschälen ...“ „Adam!“

„Sie muß Wäsche waschen.“

„Adam!“'

„Tatsächlich!“

„Männer lügen einander nichts vor. Was hat sie gesagt?“

„Sie muß...“, Adam schluckte. Männer lügen einander nichts vor. „Sie hätte keine Zeit. Und sie hat das kirschrote Kleid angezogen und die spitzen Schuhe und ist mit so einem Boxer ins Kino gegangen, mit so einem Schlächtermaul, ich werde ihn — ich werde ihn“, er ballte die Fäuste, hob sie hoch, brach in bitterliches Weinen aus und barg sein Gesicht in dem zerknitterten Regenmantel des Langen.

Der Bärtige schwieg und dann gingen sie miteinander über den Hang, beschmutzt vom Ruß der Stadt, und schwiegen sich aus wie Männer, die keine Nuß vom Baum zu schwätzen brauchen, um einander zu verstehen.

Adam schnitt fünf Weidenruten ab. Er ließ sich ins Gras plumpsen, wo hunderte traurige Tausendschöne blühten. Schattengleich hingen zerzauste, garstige Flügel vor seinen, Augen.

Ein schwarzes Huhn setzte sich auf seine achtjährige Welt.

Obersetzt von H. Caertner, gekürzt. Aus: „Sieben Würfel“, Orbis-Verlag, Prag.

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