6660663-1960_04_10.jpg
Digital In Arbeit

Der Zug aus dem Süden

Werbung
Werbung
Werbung

Der Sohn des Bahnhofsvorstehers hieß Sebastian. Er war klein und trug eine Brille auf seiner Nase voller Sommersprossen. Natürlich hatte er es besser als alle anderen Jungen in der Stadt, denn wenn er nur aus dem Fenster sah, rollte die Welt mit bunten Waggons an ihm vorbei. Da gab es pfeifende und zischende, Lokomotiven, fast geräuschlos dahinrasende Garnituren und alte, ausrangierte Lastzüge mit Holz, Vieh und Kohle. Und hunderte Menschen gab es auf dem Bahnhof mit hunderten verschiedenen Gesichtern, bunten Hüten, grellen Kleidern und ausgetretenen Schuhen. Sie fuhren, um nie wiederzukehren, oder sie kamen, atmeten befreit, wie nach einer langen, qualvollen Zeit auf und blieben für immer. Sebastian sah sie alle und vergaß sie wieder. Nur eine nicht. Sie kam jeden Tag um die gleiche Stunde und sah nach dem Süden, dorthin, woher die Züge kamen, die noch den Duft von Palmen und Zitronen mit sich brachten. Sie stand und ging, stand und ging, Tage, Wochen, Monate. Oft trug sie ein paar Wiesenblumen in der Hand, einen Veilchen- oder Margeritenstrauß, oft stand sie aber nur so da, mit leeren Händen und müdem, altem Gesicht.

„Wer ist sie“, fragte der Junge, seirieh'Vaten Dieser legte seine Hand über die Augen, um

besser zu sehen. „Ach, die“, sagte er, „die wird, glaube ich,

noch kommen, wenn wir beide nicht mehr

sind.“

„Auf wen wartet sie?“

„Auf einen jungen Mann“, sagte der Vater. „Sie liebte ihn und gab ihm Geld, damit er gut zu ihr sei.“

„Und“, fragte Sebastian und sah nach der Frau, die nicht müde wurde, zu warten.

„Er nahm es“, sagte der Vater, „und fuhr nach dem Süden an das blaue Meer.“

„Und was weiter?“

„Er sandte ihr viele Karten mit bunten Bildern und Marken, viele Grüße und Küsse und bat um Geld.“

„Und sie gab es ihm?“

Der Bahnhofsvorstand nickte und betätigte eine Kurbel.

„Natürlich“, sagte er.

„Und dann kam der Junge wieder, nicht wahr?“ folgerte Sebastian.

„Nein“, sagte der Vater, „die Frau hatte kein Geld mehr, ihr Herz bebte vor Sehnsucht und sie rief ihn zurück.“

„Nun kam er.“

„Nein, er kam nicht. Er schrieb nicht mehr, und es war, als wäre er tot.“

„Was war ihm geschehen?“

„Wahrscheinlich nicht viel, höchsten, daß er sich nun klar wurde, daß die Frau zu alt für ihn sei.“

„So alt ist sie doch noch gar nicht“, sagte Sebastian.

„Doch“, widersprach der Vater, „sie könnte fast seine Mutter sein,“

„Dann kommt er also nie mehr?“

Der Bahnhofsvorstand hob die Schultern.

„Das weiß ich nicht“, sagte er, „aber sie glaubt daran. Eines Tages, meint sie, wird er aussteigen, sie an sein Herz nehmen und nie mehr von ihr gehen. All die finsteren und leeren Jahre des Hoffens und Wartens werden vergessen sein und hunderttausend Tage voll Glück und Sonne für sie und ihn.“

„Und wenn nicht?“

Der Bahnhofsvorstand rückte seine Mütze zurecht und sah nach dem Süden. In der Ferne ertönte ein Pfiff und der Zug mit dem Duft

nach Palmen und Zitronen näherte sich.

„Ja, mein Junge“, sagte er. „wenn nicht, dann wird sie eines Tages eben nicht mehr kommen.denn ihre Füße werden dazu zu schwach sein, ihr Atem zu kurz, und Hoffnung, Sehnsucht, Liebe und Treue werden erlahmen wie die Flügel eines sterbenden Vogels.“

Der Zug fuhr ein. Er glühte vor Schweiß und roch nach dem Salz des Meeres. Die Türen öffneten und schlössen sich. Nur ein paar Menschen traten auf den Bahnsteig und gingen an der Frau vorbei, als sei sie gar nicht da. Der Vorstand sah nach der Uhr und hob den Stab mit dem grünen Licht. Das Gestänge begann zu arbeiten, die Räder sich zu drehen und der Bahnsteig erzitterte. Der Junge sah nach der Frau. Ihr Mund schien leicht geöffnet und die Augen schienen zu erlöschen. Nun sah er selbst, daß sie alt und müde war. Sie wankte leicht und griff sich nach der Stirne. Er verließ sein Fenster.

„Arme, liebe, alte Frau“, sagte er, „arme, liebe, alte Frau.“

„Wohin gehst du?“ fragt ihn der Vater.

„Zu ihr“, sagte Sebastian, und er hörte nicht mehr die Stimme, die ihn zurückrief. Er trat an die Frau heran und nahm sie bei der Hand.

.{Hier bin iclj“, sagte er.y.komm, £ehen wir.“ Sie saii'llin an, als erwäcn'e sie aus eifern^osflf Traum, und berührte mit scheuen Fingern seine Wangen, den Mund und die Augen. Als sie beide den Bahnhof verließen, lächelte sie und hörte nicht mehr das Singen des Windes, in den Telephonmasten und auch nicht mehr den Pfiff der fernen Lokomotive,

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung