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SIE GABEN IHM GELD

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Er trottete da im Regen mit seinem Handwagen die Straße lang, einer von denen, die im Sommer auf den Bänken.in den öffendicheftiGaPteB sitzen und sich im Winter in den Hallen der Postämter wärmen. • •-* m

Am Rotterdamer Platz holten ihn die Frau und der Junge ein. Sie kamen von der Grenze, trugen Rucksäcke und hielten in jeder Hand eine prall gefüllte Tasche. Sie hatten geschmuggelt und bei dem Wetter Glück gehabt. Die Frau hatte eine Männerhose an, ihre Lippen waren geschminkt, über Kopf, Schultern und'Rucksack trug sie ein durchsichtiges Cape. Der Junge hatte sich eine alte Zeltplane über den Kopf gezogen, seine Bewegungen waren müde und schlaff.

„He, Sie!“ rief die Frau dem Alten zu, „Sie könnten unser Zeug zum Bahnhof fahren!“ Aber der Mann hörte nicht. Er hatte den Blick auf den Boden gerichtet und trottete weiter. ,,He!“ rief die Frau lauter, „zum Bahnhof!“ Dabei stellte sie

eine Tasche auf die Straße und faßte den Mann an der Schulter, o Der Alte legte die Hand hinter das Ohr und machte ein blödes Gesicht. Er hätte ganz verstört aufgesehen. Aber als er jetzt erkannte, daß er angesprochen war, wuchs in seinen Augen eine zaghafte, scheinbar unbegründete Freude. „Ich glaub' der hört nicht richtig“, sagte der Junge. „Ist ja egal“, entgegnete die Frau, „ich werde schon mit ihm fertig.“ Und schreiend machte sie dem Alten klar, was sie von ihm wollte. „Ja, ja“, nickte der Mann und sah die Frau dabei an, „zum Bahnhof. Ja, ja. Ich hab' Zeit. Wissen Sie, ich bin allein. Seit dem Krieg. Das Haus war weg, und meine Frau ... Aber mein Sohn, wissen Sie, er war in Gefangenschaft. Bis vor zwei Monaten, wissen Sie...“ Die Frau hatte dem Mann den Rücken zugekehrt und setzte ihre Taschen auf den Wagen. Der Alte faßte zu und half beim Aufladen der Rucksäcke. Dann nahm er die Deichsel und zog los. „Ich muß Ihnen das mal erzählen“, sagte er zu der Frau, die neben ihm herging, „mit meinem Sohn das. 43, da kam er in Gefangenschaft. Vor zwei Monaten haben sie ihn entlassen. Hören Sie?“ Die Frau warf einen Blick auf die Armbanduhr und ging zu dem Jungen an das hintere Ende des Wagens.

„Der erzählt einem noch seine ganze Familiengeschichte“, sagte sie, „los, schieben wir. daß er voranmacht und wir den Zug noch kriegen!“ „Wollen wir ihm was geben?“ fragte der Junge. „Na klar“, sagte die Frau. Sie überquerten den Bahnhofsvorplatz und traten aus dem Grau des Regens in die Halle: der Klang eilender Schritte, Stimmengewirr, ein Zeitungskiosk, ein Würstelstand und igendwo die zerfaserte Stimme eines Ausrufes: „Schokolade! — Zigaretten! — Kaugummi!“

Während der Junge die Fahrkarten löste, nahm die Frau ein Markstück aus ihrem Portemonnaie und hielt es dem Alten hin. „Ich will kein Geld“, sagte der Alte hastig, „nein, nein. Aber hören Sie, ich muß Ihnen das erzählen mit meinem Sohn! Er war entlassen, und — hören Sie?“ „Nehmen Sie schon!“ sagte die Frau eilig, „sind Betriebsunkosten.“ Und dabei drückte sie dem Mann das Geldstück in die Hand und klopfte ihm auf die Schulter. Sie schwangen ihre Rucksäcke auf den Rücken, nahmen ihre Taschen und gingen durch die Sperre.

Jemand zog sich am Automaten eine Bahnsteigkarte, oben fuhr der Zug ein. Der Alte stand da mit flackernden Augen. Er blickte der Frau nach, dem Jungen, und sah, wie die beiden im Strudel der Menschen untertauchten. Da ließ er die Deichsel fallen und hastete auf die Sperre zu. „Warten Sie!“ rief er, „warten Sie doch! Hallo! — Hallo!“ Seine Stimme klang lächerlich dünn. Er lief weiter. Der Beamte an der Sperre faßte ihn unsanft am Arm: „Moment mal! Ihren Fahrtausweis! Wo wollen Sie denn hin?“ Der Alte stand verwirrt still und zeigte ihm das Geldstück. „Was soll das?“ fragte der Beamte. „Sie sind weg...“, sagte der Alte. Er stand da, keuchend, mit schlaffen Armen, und fügte hinzu: „Er ist gestorben. Auf dem Rücktransport. Er war entlassen. Er war in Deutschland. Er ist gestorben ...“ „Machen Sie bitte Platz, wenn Sic keine Karte haben!“ sagte der Beamte, „Sie sehen doch, daß die Leute hier durch wollen! So machen Sie doch Platz! Gehen Sie!“

Der Alte machte kehrt und stolperte zu seinem Wagen zurück, während ihm die Umstehenden nachsahen. Jemand lachte. Die Stimmen hallten wider von den Wänden, der Regen trommelte .iuf das Glasdach, und seine Schleier verdunkelten den tönenden Raum mit den vielen Menschen, mit dem alten Mann unter ihnen, in dessen Handfläche feucht und fremd das Geldstück lag.

„Zigaretten! — Schokolade! — Kaugummi“ — Oben rollte der Zug aus der Halle.

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