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Dichtung und Wahrheit

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Ruby aber wird sie bestimmt gerecht. Schon die unbeabsichtigt nicht schmeichelhafte Autobiographie dieses Mannes, die vor dem Erstverfahren in drei tränenreichen Fortsetzungen an die meisten Zeitungen der Nation verhökert wurde, sowie der Verlauf des Prozesses lassen darüber keine Zweifel.

Übrigens stellte dieser Versuch, für Ruby Sympathien zu gewinnen, eine unstatthafte Beeinflussung des schwebenden Verfahrens dar. Man darf aber dabei zwei Dinge nicht übersehen. Einmal machten diese Ergüsse einer verklemmten Seele Ruby nicht sympathischer, weil dem Firnis, mit dem man die Persönlichkeit dieses Mannes zu lackieren versuchte, die haltbare Unterlage fehlte. Zweitens war er von Anfang an überführt, weil fast jedermann seine Tat im Fernsehen mit angesehen hatte. Daher verdient der plumpe Versuch, ihm Sympathien zu verschaffen, Nachsicht. Es ist auch nicht verwunderlich, daß die Verteidigung verzweifelt versuchte, Geschworene, die Oswalds Ermordung im Fernsehen gesehen hatten, nicht zuzulassen. Sie hatte keinen Erfolg, weil sonst nur taube Blinde als Schöffen in Frage gekommen wären.

Ruby ist ein desorientierter Wanderer zwischen zwei Welten, der Unterwelt und der Welt der Honoratioren. Einerseits trug er immer einen Revolver bei sich, weil man in dem Dschungel, in dem er sich bewegt, ohne Waffen nicht lange lebt, anderseits ging er an jedem Freitagabend zur Synagoge. Er ist nicht nur aus Mangel an Geistesgaben außerstande, in der oberen Welt Fuß zu fassen, sondern auch aus einer merkwürdigen Veranlagung heraus, die ihn in der sich so maskulin gebenden Gesellschaft von Texas zum Einzelgänger stempelte.

Möglicherweise fühlte er infolge dieser Veranlagung eine persönliche Bindung an den im Glanz seiner Jugend ermordeten Präsidenten. Das ist aber nicht das ausschlaggebende Motiv für seine Tat. Ausschlaggebend ist, daß für ihn der Präsident das Symbol der Gesellschaft war, mit der er vergeblich sich zu identifizieren suchte. Aus dem Prozeß ergaben sich keine Anhaltspunkte dafür, daß er eine prononcierte parteipolitische Vorliebe hatte. Man darf annehmen, daß er, wenn der ermordete Präsident ein ältlicher Republikaner gewesen wäre, genauso reagiert hätte.

Ist es unbegreiflich, daß in dem Kopf eines Menschen, der zwar nicht sonderlich intelligent ist, aber eine sehr reale Einschätzung der Rolle der Gewaltsamkeit hat, der Irrglaube entstehen kann, daß ihn die Gesellschaft der honetten Bürger, wenn er den Präsidenten rächte, dankbar an ihren Busen drücken werde? Seiner Angabe nach war das größte Ziel seines Lebens, Sheriff von Dallas zu werden. Er wußte, daß er unter normalen Umständen dafür keine Chance hatte. Jedoch, im Wilden Westen waren harte Burschen Sheriffs geworden, weil sie bedenkenlos Übeltäter abknallten. Das Fernsehen glorifiziert sie heute noch. Der Wilde Westen besteht nicht mehr, aber die Unterwelt, von der dieser Wanderer zwischen zwei Welten sich nicht losreißen konnte, hat seine Erbschaft der Gewalttätigkeit übernommen und vermehrt.

So trieben ihn primitive Emotionen in eine Tat, die er weder intellektuell noch charakterlich abzuwägen fähig war. Es muß ein schwerer Schock für ihn gewesen sein, daß ein Todesurteil und nicht Ehrenbürgerschaft das Resultat war.

Es macht den Eindruck, als ob Ruby eine jener Schattenpflanzen des Schicksals ist, deren größte Anstrengungen immer vergeblich sind. Seine Bemühungen um Ansehen endeten im Besitz eines drittklassigen Nachtlokals, das Nackttänzerinnen herausstellte, ein strip tease Joint, wie man hierzulande verachtungsvoll sagt. In der größten Rolle seines Lebens wurde er das Opfer einer Fehlbesetzung — Sündenbock statt Nationalheros.

Auch mit seinem Verteidiger hatte er kein Glück. Durch eine Mischung von juristischen und komödiantenhaften Fähigkeiten hatte Marvin Belli viele Angeklagte, deren Fall hoffnungslos schien, vor dem elektrischen Stuhl bewahrt. Bei Ruby aber vergriff er sich, wahrscheinlich, weil seine Zuhörerschaft zu groß war. So wurde der Prozeß zu einem Duell zwischen ihm und dem Staatsanwalt, einem hartgesottenen Bürokraten, der anscheinend auf seine Todesurteile ebenso stolz war wie Belli auf seine Freisprüche. Ruby geriet beinahe in Vergessenheit, und das Todesurteil war fast noch mehr auf den Verteidiger gemünzt als auf den Angeklagten. Schließlich machte es Rubys Pech voll, daß sein Richter fast mehr auf Publicity als auf die Würde seines Amtes bedacht war.

Jetzt aber hat Ruby einen neuen Verteidiger, Dr. Hubert Winston-Smith. Dieser Professor der Jurisprudenz an der Universität von Texas, der für die Dauer des Verfahrens von seinen Vorlesungen beurlaubt ist, ist der einzige amerikanische Anwalt, der ein Doktorat der Medizin besitzt. Es wird erwartet, daß es ihm besser als seinem Vorgänger gelingen wird, Rubys angebliche Geistesgestörtheit zu dokumentieren. Auch wird dem Angeklagten die Härte des Urteils insoferne zugute kommen, als der staatliche Oberste Gerichtshof Verfahren, die mit einem Todesurteil enden, viel genauer untersucht. In Dallas nehmen daher nicht wenige an, daß das Urteil revidiert werden wird.

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