Mathias Énard - © Foto: Marie-Lisa Noltenius

Die Unendlichkeit im Endlichen: Mathias Énards Roman „Tanz des Verrats“

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Der Goncourt-Preis-Träger Mathias Énard ist ein Meister der Kombinatorik. Fiktion und Realität verschmelzen in seinem neuen Roman „Tanz des Verrats“ zu einer großen Erzählung über Krieg und Widerstand, über Verrat und Vertrauen, Liebe und Hoffnung.

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Der Goncourt-Preis-Träger Mathias Énard ist ein Meister der Kombinatorik. Fiktion und Realität verschmelzen in seinem neuen Roman „Tanz des Verrats“ zu einer großen Erzählung über Krieg und Widerstand, über Verrat und Vertrauen, Liebe und Hoffnung.

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Mathias Énard und der Krieg: Seit seinem Roman­debüt „Der perfekte Schuss“ im Jahr 2003 schreibt sich der französische Träger des Prix Goncourt an den schwarzen Kapiteln der Weltgeschichte entlang. Dabei rückt er aktuelle Ereignisse in ein räumlich wie zeitlich breites Bezugsfeld. Das konfliktreiche Verhältnis zwischen Orient und Okzident dient ihm häufig als zusätzliche Folie. Mathias Énard hat Arabisch und Persisch studiert. Er übersetzt Literatur aus beiden Sprachen und hielt sich lange Zeit im Mittleren Orient auf.

Auf diesen Pfeilern basiert auch sein 2023 erschienener Roman „Déserter“ (Desertieren), der nun unter dem Titel „Tanz des Verrats“ auf Deutsch vorliegt. Die meisterliche Übersetzung besorgte das bewährte Duo Holger Fock und Sabine Müller. Ursprünglich, so der Autor in einem Interview mit der Revue des Deux Mondes, wollte er nur die Geschichte des fiktiven deutschen Mathematikgenies und KZ-Überlebenden Paul Heudeber erzählen. Der Ukrainekrieg bewog ihn zur Einfügung eines zweiten Erzählstrangs; er handelt von einem anonymen Deserteur aus einem unbenannten Krieg. Zunächst ist kein Berührungspunkt zwischen den beiden Lebenswegen aus­zumachen.

Atmosphärisch dicht

Eröffnet wird der Roman mit einer atmosphärisch dichten Szene. Der namenlose Soldat hat sich dem Krieg entzogen, doch der Krieg klebt an ihm. Als Gestank, als Dreck, als verkrustetes Blut. Der Fahnenflüchtige aus dem Siegerlager trägt noch sein Gewehr – und im Kopf die Bilder der Gewalt. Seine Erschöpfung und Zerlumptheit kontrastieren mit dem Reiz der erwachenden Natur. Er schlägt sich durch ihm vertrautes, küstennahes Vorgebirge, eine mediterrane Idylle, erfüllt vom Duft wilden Thymians und blühender Bäume.

Der Mann sucht Zuflucht an einem Ort der Kindheit. In der entlegenen Hütte seines Vaters will er Kräfte sammeln, um über den nahen Grenzpass nach Norden zu fliehen. Doch plötzlich gerät er in eine ganz andere Grenzsituation. Der Autor schickt ihm eine gemarterte Frau über den Weg, auch sie eine Flüchtende aus jenem Krieg. Sie stammt aus demselben Dorf wie der Mann, weiß um seine Gewalttaten und rechnet mit dem Schlimmsten. Das Dilemma des Deserteurs: Was tun mit dieser potenziellen Verräterin?

Die Wahrheit hat viele Gesichter

Ein einäugiger Esel, alt und wund, begleitet die Frau. Geschundene Kreaturen alle beide, die schwer an der Rohheit der Welt tragen. Die französische Originalausgabe illustriert die Bedeutung des Tiers, es ziert das Cover des Buches. Der Esel war das traditionelle Last- und Reittier einfacher Menschen des Südens. Die Kulturgeschichte schreibt ihm unterschiedliche Eigenschaften zu. Gilt er in der Antike vornehmlich als störrisch/dumm oder hyperpotent, steht er nach christlicher Lesart für Demut oder unschuldiges Leid. Nicht zu vergessen seine „tragende Rolle“ bei der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten.

Auch Énards romanesker Esel hat eine höhere Mission: Er errettet seine Herrin aus tödlicher Gefahr und weckt das Mitgefühl des Soldaten. Der beschließt, Frau und Tier zu versorgen, zu pflegen. Aber ist seiner humanen Regung zu trauen? Der buchstäblich steinige Weg des Trios gestaltet sich als hochdramatisch. Die Frau bleibt stumm und namenlos, ihr Schicksal offen. Der Soldat aber tritt aus der Anonymität heraus. Die Fäden des Strippenziehers beginnen sich zu verschlingen, spät und spektakulär.

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