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Die Wege einer großen Dichterin

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Arn Weihnachtsabend des nun vergangenen Jahres beging Henriette Roland Holst ihren 80. Geburtstag. Das niederländische Volk bereitete ihr eine Huldigungsfeier, wie sie außer der Königin in unserem Lande wohl keiner Frau je zuteil wurde. Denn sie ist nicht nur die größte Dichterin unserer Sprache, sondern eine der genialsten der Weltliteratur überhaupt. Von ihren Gedichten rühmte schon Huizinga, daß man dereinst um ihretwillen die niederländische Sprache im Ausland lernen werde, nur damit man sie in der originellen Fassung lesen könne. Auf gleicher Höhe stehen ihre Laienspiele und Dramen und die Biographien über Rousseau, Tolstoi, Trotzky, Gezelle und Gandhi, deren Leben sie liebevoll und mit großem Verständnis zu deuten wußte, weil sie diesen Koryphäen menschlich und geistig sehr nahe stand.

Weit mehr aber als ihr Werk gilt ihr reiches Leben, das uns als ein leuchtendes Symbol selbstloser Opferbereitschaft und unbestechlicher, absoluter Ehrlichkeit inmitten einer argen Welt hoffnungsvoll entgegenstrahlt. Ihr Gerechtigkeitssinn und die heiße Menschenliebe, welche ihr nach eigener Aussage angesichts der erbarmungslosen Not manchmal die Ruhe und den nächtlichen Schlaf raubten, zwangen sie, sich politisch zu betätigen. Die Sehnsucht nach einer besseren Gesellschaftsordnung und das Ideal der werdenden Einheit aller Völker führten sie zu Marx, den sie eifrig studierte. Die geborene Aristokratin wird eine überzeugte Marxistin, hält begeisterte Reden und veröffentlicht mehrere politische Schriften, wie „Kapitaal en arbeid in Nederland“ (1902) und in deutscher Sprache „Gewerkschaftsstreit und Sozialdemokratie“ (1905) und „Generalstreik“ (1909). Als 1914 die Internationale zusammenbricht, ist sie zunächst ratlos; ihre einzige Hoffnung gilt nun Rußland. Immer radikaler scheint sie zu werden, bei jeder Gelegenheit erklärt sie sich solidarisch mit den aufbegehrenden Arbeitermassen; 1915 beteiligt sie sich an den kommunistischen Konferenzen in der Schweiz, wo sie mit Lenin, Trotzky und Radek zusammentrifft; auch Liebknecht und Rosa Luxemburg besucht sie einige Male. Begeistert ruft sie während der russischen Revolution alle Soldaten auf zum Kampf für den Kommunismus, der allein die Völker versöhnen und die Menschheit befreien könne. Sie wird ein führendes Mitglied der Kommunistischen Partei Hollands. Mit lauterem Herzen, aus Menschenliebe und idealster Gesinnung.

Die bittersten Erfahrungen, die gröbsten Enttäuschungen erntet sie ein. Ihre Reise nach Rußland (1921) und das Schicksal Trotzkys beschleunigen den sich längst ankündigenden Rückschlag. 1927 tritt sie aus der Kommunistischen Partei aus. Ihr Mutterherz blutet, sie will helfen, erkennt jedoch, daß der begangene Weg in die Irre führt und wendet sich traurig ab. Keineswegs aber ist sie erbittert und hoffnungslos,- es muß doch für die Ärmsten einen Weg geben, den sie würdig beschreiten können und der auch für sie zum Glück führt. Wenn dieser gefunden ist, wird sie, die mütterliche Führerin, unentwegt und entschlossen vorangehen. Sie sucht weiter, und über den religiösen Sozialismus findet sie dann zum Christentum. Sie glaubt an den Sieg des Geistes und der Seele über die nackte Gewalt, Gandhi wird ihr Leitstern. 1945 fleht sie, die mutige Widerstandskämpferin des Krieges, als erste um Gnade für die zum Tode verurteilten Kollaborateure Hollands. Umsonst bemüht sie sich darum, daß die Todesstrafe wieder aus dem Gesetz gestrichen werde. Das Los der kolonialen Völker beschäftigt sie unausgesetzt wie das aller Unterdrückten.

Darüber ist sie nun alt geworden; das würdige Haupt, dieser edle Charakterkopf, ist voller Runzeln; ungetrübt aber und ohne Makel das lautere Herz, die schöne Seele. „Eine Gläubige“, bekennt sie von sich selbst, „die, auf den Knien liegend, sich allezeit am glücklichsten fühle.“

„Und das Feuer brannte weiter.“ Dies ist der bedeutungsvolle Titel der monumentalen Selbstbiographie, die sie, Henriette Roland Holst, zu ihrem achtzigsten Geburtstag der Menschheit schenkte. Mögen alle, die guten Willens sind und die gleich ihr streben, kämpfen und vielleicht irren, diese Geschichte eines reichen und reinen Lebens dankbar entgegennehmen und daraus erkennen die Macht der Liebe.

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