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DR. CARL SONNENSCHEIN / DAS SOZIALE GEWISSEN

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Es ist eine Verpflichtung unserer Generation, das Andenken gerade jener Persönlichkeiten wachzuhalten, deren Lebensinhalt es war, das soziale Gewissen immer wieder aufzurütteln. Einer dieser Großen war der „Berliner Apostel” aus der ersten Kriegs- und Nachkriegszeit, Dr. Carl Sonnenschein, der vor 30 Jahren, am 20. Februar 1929, für immer seine Augen schloß. Wenn er auch für Oesterreich nicht die Bedeutung hatte wie für das Deutschland der Weimarer Zeit, so strahlte doch seine Persönlichkeit auch auf Oesterreich, im besonderen auf Wien, aus. Hier fand er Mitarbeiter, die sich an seinem Feue’rgeist entzündeten und besonders der sozialstudentischen Arbeit in der unmittelbaren Nachkriegszeit, aber auch noch in den Jahren 1933 bis 1938 zum Durchbruch verhalfen. Erst der Untergang des Vaterlandes hat auch dieser Arbeit ein Ende bereitet.

Sonnenschein war der Repräsentant des sozialen Gewissens in einer Epoche, in der noch die Auffassungen des liberalen Katholizismus dominierend waren. Er brannte vom Feuer sozialer Hilfsbereitschaft und karitativer Verpflichtung; er reagierte bis ins äußerste extrem, er, der ausschließlich aus dem Religiösen heraus fortschrittlich dachte und wirkte. Seine Größe liegt im persönlichen Beispiel, das er gab; er war selbstlos bis zur Selbstverachtung, das innere Feuer brannte, bis es ihn frühzeitig verzehrte. Seine großen Anliegen und seine Werke waren die sozialstudentische Arbeit, die Weckung des sozialen Gewissens gerade in den Kreisen der akademischen Jugend von damals. Er war der große Stude tenerwecker, der Erwecker vieler Tausender, der Erwecker zum Bewußtsein der Volksgemeinschaft und der Verantwortlichkeit ihr gegenüber. Es war keine Seelsorge im gewöhnlichen Sinn, die er betrieb, er schuf Boden und Bedingungen für christliches Leben, bewies Liebe durch Beispiel und Tat, und dadurch bewies er mehr als andere. Er lehrte Liebe, Hilfe und lehrte viele wieder an Gott, Christus und die Kirche glauben.

Beim Tode Sonnenscheins bewies sich die Einheit jener Menschen, die er Zeit seines Lebens betreut hatte. Es bewies sich aber auch, daß sie immer noch über allem dann eins sind, wenn sie selbstlose Liebe sehen, wenn sie sehen, daß die Liebe Brücken schlägt, daß sich über allen Entzweiungen, über allen Zweifeln alles beugt vor der Majestät der Liebe. Sonnenschein lebte wie ein Bettler — und starb wie ein König.

Seine Notizen sind ein seltener Schatz, eine Fundgrube auch für unsere Zeit, und damit beweisen sie wieder, daß die Worte großer Männer, die in ihre Zeit geschrieben wurden, immer Gültigkeit haben: „Nur eines reicht an die Menschen heran, die das Christentum auch nicht mehr aus den Erzählungen ihrer Väter kennen, auch nicht mehr vom Rosenkranz ihrer Mutter, auch nicht aus dem Religionsunterricht der eigenen Schulzeit. Nur eines werden sie begreifen: Es muß aus dieser Welt jemand zu ihnen kommen, sich in ihren Dienst stellen, ohne Sprechstunde, ohne Ressortbegrenzung; ohne Konfessionskartothek. Solcher Caritas, die sich als selbstverständliches Christentum betrachtet, wird niemand widerstehen können.”

Das sind seine eigenen Worte in den „Notizen”; sie sagen mehr, als man in Büchern über Sonnenschein aussagen könnte. So lebt Sonnenschein heute noch in den Herzen vieler, denn nicht sterben kann, wer einmal trank vom Licht.

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