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Dr. Carl Sonnenschein

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Am 20. Februar 1929 — vor 25 Jahren — ist Dr. Carl Sonnenschein in Berlin verschieden und am 23. Februar unter Teilnahme von 12.000 Menschen auf dem Nordfriedhof in der Liesenstraße bestattet worden.

Sonnenschein war von Geburt Düsseldorfer. Durch seinen Onkel Karl lernte er den priesterlichen Beruf kennen und wurde — nach einem Semester Theologie in Bonn — in das Collegium Germanicum in Rom aufgenommen, wo er nicht bloß seinen Professoren, sondern auch den Führern der jungen katholischen Renaissance, einem Toniolo, Murri, Don Sturze, Gehör schenkte. Am Allerheiligentage 1900 feierte er seine Primiz in Rom. — Sechs Jahre lang arbeitet er dann als Kaplan in der Kölner Diözese: in Aachen, in Köln- Nippes, in Elberfeld — und wird dann aus dem Seelsorgedienste beurlaubt. Franz Brandt, der Vater und Führer des Volksvereines für das katholische Deutschland, betraut den hochbegabten jungen Priester mit dem Akademikerreferat im Volksverein; 1907 gründet er dort das SSS (Sekretariat für soziale Studentenarbeit), das Mittelpunkt aller anderen Gründungen und im Krieg Träger des Studentenhilfsdienstes war. Mit Ende des Krieges verläßt er Gladbach uhd gründet in Berlin (Georgenstraße) seine Zentrale, von der aus er Berlin für Christus und Seine Kirche erobern wollte. Nicht durch glänzende Reden, sondern durch grenzenlose Hilfsbereitschaft für jede menschliche Not.

Sein Sekretariat in der Georgenstraße war jedem zugänglich, der in Not war. Er beschränkte sich nicht auf Berlin. Auch uns schrieb er nach Wien zahlreiche Briefe und machte uns auf Fälle besonderer Not aufmerksam. Da hieß es:

Haben Sie für folgende Sache Zeit: Pilgramgasse 22, 13. Tür, wohnt in Wien V eine Kölner Studentin, Kunstgeschichte. Die Mutter macht sich Sorge, da die Tochter keinen katholischen Anschluß hat. Können Sie unauffällig das Nötige veranlassen?

Oder — der tragischeste Fall —: Wien XIII, Peschmanngasse 5, wohnt Herr J. Gangl, über den mir eben ein sozialtätiger Student folgendes schreibt: — er ist halb blind, krank und hat mit noch nicht 1000 Kronen im Jahr fünf Personen zu ernähren, muß dabei alle Hausarbeit selbst tun, da seine Mutter alt und krank ist. — Dem Armen müßte rasch geholfen werden. — Kann in Wien etwas geschehen?

Wir machten uns in solchen Fällen gleich auf den Weg und mobilisierten alle Hilfskräfte. Als wir hinkamen, war Gangl bereits gestorben — verhungert.

Carl Sonnenschein begann seine Berliner Arbeit im Alter von 42 Jahren. Zehn Jahre später waren seine Kräfte völlig erschöpft. Er hatte Berlin blühende katholische Organisationen geschenkt: die Akademische Lesehalle, die Katholische Volkshochschule, den Märkischen Wassersport, den Märkischen Geschichtsverein, das Presseapostolat, eine Siedlungsgemeinschaft „Das katholische Dorf“, den Märkischen Kalender und vor allem das „Berliner Kirchenblatt“. Da nahezu alles auf freiwillige Spenden aufgebaut war, gingen viele Organisationen nach seinem Tode ein.

Seine Wirksamkeit beschränkte sich nicht auf das Deutsche Reich. Durch Vermittlung des Nationalökonomen Dr. Ferdinand Degenfeld, der sowohl in Deutschland als auch in Oesterreich beheimatet war und 1927 Professor der Nationalökonomie an der Wiener Universität wurde,- bekam Doktor Sonnenschein Verbindung mit dem Akademischen Lese- und Redeverein in Wien, später Akademia genannt. Dort fand er in dem Juristen Dr. Otto Maresch einen verständnisvollen Mitarbeiter. Sonnenscheins erste Rede in Wien im Winter 1909 hatte durchschlagenden Erfolg. Tief beglückt schrieb er am 9. März 1909 an Ferdinand Degenfeld nach Charlottenburg: „Wien war geradezu hervorragend. Denken Sie sich einen der großen Universitätssäle, zu welchem wir an der zerbrochenen Rampe vorbei hinaufstiegen, bis auf den letzten Platz gefüllt. Außer den Studenten zahlreiche Vertreter der Professorenschaft und der dortigen Aristokratie. Die Versammlung war nach jeder Hinsicht vorzüglich und übertraf alle bisherigen, besonders die reichsdeutschen, bei weitem.“

1910 und 1911 spricht er auch bei den Carteilverbindungen in Wien. Ueberall wird er freudig aufgenommen. Erst als der Konflikt zwischen den Fachvereinen der katholischen Arbeiter und den christlichen Gewerkschaften losbricht, wird auch Sonnenschein als Vertreter des Volksvereines angegriffen und erhält in der Breslauer Diözese ein Redeverbot, über das in dem erst vor kurzem gegründeten „Sonntagsblatt“ in Wien berichtet wird. Er fürchtet nun, daß seine Reden in Wien auch bei dem Wiener Kardinal Nagi nicht gerne gehört würden. Und nun schreibt er einen Brief nach dem anderen sowohl an Degenfeld als auch an Dr. Maresch, sie mögen feststellen, ob kirchlicherseits Schwierigkeiten bestünden. Sollte das der Fall sein, würde er lieber auf die Wiener Reise verzichten. Er wolle sich „nicht zu oberflächlichen und überflüssigen Demonstrationen hergeben“. (3. 'Dezember 1912 an Dr. Otto Maresch). Am 15. Oktober 1913 schreibt er, er hoffe im Jänner oder Februar in Wien zu sein, müsse aber erst ganz bestimmt wissen, daß der Herr Erzbischof dem Vortrag wohlwollend gegenübersteht. Schön wäre es, wenn er an demselben teilnehmen wollte.

Dr. Sonnenschein hatte immer das Bestreben, mit der Kirche und in der Kirche zu arbeiten. Wie beglückten ihn die freundlichen Worte des Berliner Nuntius’ Eugenio Pacelli zu einem Bericht der Volkslesehalle, wie überhaupt das gütige Verständnis des Nuntius’ zu den wenigen reinen Freuden

Dr. Sonnenscheins gehörte. Hier ieigte sich die Weltweite des jetzigen Papstes. Wo andere in Sonnenschein den Bohemien sahen, der keine feste Lebensordnung kannte, blickte der damalige Nuntius tiefer und sah in ihm die rastlose Liebe zu Gott und den Armen.

In ihrem Tagebuch notiert Maria Grote, die Schriftleiterin des „Berliner Kirchenblattes“: „20. November 1928. Heute ist im Berliner Hedwigs-Krankenhaus große Aufregung. Der Berliner Nuntius ist soeben eingetroffen und hat sich zum Dr. Sonnenschein führen lassen. Ich stehe draußen und warte. Viele warten, sie sind in dem großen Warteraum verteilt. Ich stehe an der Tür und will als erste nach Pacellis Besuch hinein. Das Zimmer 242 erhält nun seine besondere Weihe. Der Nuntius überbringt dem Doktor beste Grüße und herzliche Segenswünsche vom Heiligen Vater, Papst Pius XL Ueber eine halbe Stunde warte ich. Dann öffnet sich die Tür und die hohe, ernste Gestalt des Nuntius’ wird sichtbar. Die Schwester und ich treten ehrfürchtig zurück und Pacelli geht hinüber zum Fahrstuhl, den wir eilends hinaufschellen. Als ich bei Sonnenschein bin, ist sein Gesicht stark gerötet. Helle, ganz helle Freude leuchtet aus seinen Augen. Mit der liebreichsten Gebärde bietet er mir den Platz des Herrn Nuntius an. Eine lange Zeit hält er mich bei sich…“

In der Todesnacht erhielt er dann den Segen des Hl. Vaters.

Dr. Sonnenschein war bettelarm. Was man ihm schenkte, gab er sofort weiter. Er bezog auch kein Gehalt, auch nicht als Schriftleiter des „Kirchenblattes“. Er und seine Wetke lebten von milden Gaben. Von Joseph Labre hatte er die Ruhelosigkeit. Es gab für ihn kein Rasten. War er einmal sich selbst überlassen, so.machte er den Eindruck trostloser Einsamkeit. Ein innerer Motor trieb ihn unaufhörlich, sich ganz hinzugeben. Wohl hat er auch — mitten auf seinen Reisen — früh am Morgen gesammelt Messe gelesen. Aber erst auf seinem Sterbebett fand er Ruhe zum Gebet, Da betete er unaufhörlich und sagte seinem Freund Pater Balkenholz „Wir wollen beten; ach, wir hätten mehr beten müssen.“

Bald nach seinem Ableben — im Jahre 1930 — sind zwei große Biographien erschienen. Karl H o e b e r, der Chefredakteur der „Germania“, sieht in Dr. Sonnenschein vor allem den Schöpfer der sozialen Studentenbewegung und den Seelsorger der Weltstadt Berlin. Ernst T r a s o 11 stellt vor allem den dynamischen Menschen dar. Er dringt bis zur Tragik in Sonnenscheins Leben vor, als dessen Mitarbeiter er es nur kurze Zeit aushielt. Am tiefsten und ergreifendsten hat Maria Grote, die Redakteurin des „Berliner Kirchenblattes“ in ihrem Buch „An den Ufern der Weltstadt“ Dr. Sonnenschein 1940 geschildert.

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