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Ein Blick auf Rußland

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SO SA HICH RUSSLAND WIEDER. Von Prinzessin Sinaida Schakewskoy. Aus dem Französischen von Herbert Furegg. R.-Piper-Verlag, München. 309 Seiten. Preis 15.80 DM

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SO SA HICH RUSSLAND WIEDER. Von Prinzessin Sinaida Schakewskoy. Aus dem Französischen von Herbert Furegg. R.-Piper-Verlag, München. 309 Seiten. Preis 15.80 DM

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Sinaida. Schakowskoy ist eine russische Prinzessin aus altem Geschlecht. Es war so alt, daß es die Romanow, ihre Dienstgeber, immer ein wenig über die Achseln ansehen konnte. Als Frau eines westlichen Diplomaten hatte sie 1956 Gelegenheit, sich einige Monate im Lande ihrer Väter, das sie 1917, fünfzehnjährig, verlassen mußte, aufzuhalten. Ueber diese Zeit hat sie ein Buch geschrieben. Es ist vollgestopft mit interessanten Details, Begebenheiten, Dialogen und Eindrücken. Sie, die in Westeuropa zur Weltbürgerin gereift ist und als Russin empfindet, zeigt, daß die „plumpe und rohe Welt“ des Ostens in Wirklichkeit sehr kompliziert ist. In oft nur minutenlangen Gesprächen mit den Menschen auf der Straße, im Park, in der Metro wird da blitzartig die Seele ausgeleuchtet, werden Tatbestände erhellt, was vor ihr den Heerscharen neugieriger, aber sprachunkundiger Pauschalreisender freilich nicht gelang. Die Prinzessin wird von den Gastgebern sogleich identifiziert. Bei einem Bankett im Kreml hatte sie das Vergnügen, besser gesagt, das Unbehagen, neben dem Chef der Geheimpolizei, Serow, zu sitzen. Sie nützte die Gelegenheit, um der diplomatisch gesicherten Zivilcourage freien Lauf zu lassen. Serow mußte, krebsrot im Gesicht, manche geschickte Replik einstecken. Obwohl beschattet, konnte sie die Tage gut nützen. Sie wanderte, von Rührung durchbebt, zu den Stätten ihrer Kindheit, besuchte Kirchen und Theater, notierte als weiblicher Harun al Raschid manch' Aufschlußreiches. Sie provoziert mit pointierter Pfiffigkeit brenzlige Situationen, die sich dann, beim Vorweisen ihres Passes, alsogleich in nichts auflösen. Erschütternd ihr Telephongespräch mit einem durch das Telephonbuch ausfindig gemachten Vetter, der es nicht wagt, mit ihr zusammenzutreffen. Immer wieder ist ihre Sprachkenntnis ein goldener Schlüssel, der tausend Türen öffnet. Als Russin erkennt sie durch eine Gebärde,

ja oft nur durch ein Wort den Angehörigen der alten Schicht. Allgemein vermerkt sie eine Vergröberung der Sprache und der Sitten, es gebe zwar große Männer, aber keine großen Herren. Die Charakterisierung der „upper ten“ des Sowjetstaates ist kurz und bündig: „Wer sie auch seien, es ist kein einziger Dummkopf unter ihnen." Chruschtschow skizziert sie in wenigen Sätzen: „Intelligenz und Witz beleben sein derbes Gesicht. Er steht mit beiden Füßen fest auf dem Boden der Tatsachen. Er wäre eine Gestalt, würdig eines Rabelais oder Jor- daens, er ähnelt Taras Bulba auf dem Gemälde Repins, doch hinter dieser ein wenig burlesken äußeren Erscheinung stehen Entschlossenheit, Energie, gesunder Menschenverstand, Ehrgeiz und — gefährlich für ihn wie für uns — Impulsivität.“

Köstlich, wie sie mit den Gattinnen der hohen Funktionäre zusammentrifft, denen allzu sichtbar die kleinbürgerlichen Eierschalen anhaften. Im Nu ist man mitten im Gespräch: Entbindung, Windeln und die Banalitäten des Gasherdes. („Ganz wie in Oesterreich!“ möchte man ausrufen.) Auf die reine Schilderung versteht sich Sinaida Schakowskoy, auf die Mischung von Farbe und Geste, kurz auf alles, was eine lebendige Atmosphäre entstehen läßt. Der Bericht, ergänzt und bestätigt auf seine nie verletzende oder voreingenommene, manchmal zuwenig reflektierende Weise, was wir von anderen Büchern über dieses Volk wissen: daß es ein Volk mit großen Tugenden ist, daß es leidet, und daß es seine Leiden schweigend, fatalistisch oder auch in frommer Gläubigkeit erträgt. Vor allem aber straft sie den bornierten Satz des berühmten Marquis de Custines Lügen, der, noch immer das Urteil vieler Europäer trübend, da lautet: „Alle Völker kennen die Sklaverei, aber nur die Russen liebten sie.“

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