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Ein Dicnter überliest sein Werk

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Die im Leben jedes Schriftstellers wichtige Stunde der „Gesammelten Werke“ hat für Franjois Mauriac geschlagen: Fayard gibt der großen Ausgabe eben den letzten Schliff. Nachstehend bringen wir jene an neuen Gesichtspunkten reichen Seiten, mit denen Mauriac die Leser in seine gesammelten Werke einführt.

Ich habe beschlossen, meine Leser über die Methode, die wir bei der Herausgabe dieser gesammelten Werke gefolgt sind, aufzuklären dies aber ist nicht so leicht, wie ich es mir vorgestellt hatte, da wir oft, der von uns gewählten chronolo-logischen Reihenfolge zuwiderhandeln mußten — und vor allem meine ersten Geschichten für einen letzten Band aufbewahrten, die unter dem Titel „Jugendwerke gesammelt werden. Eine einzige ist dieser ungnädigen Behandlung entgangen, „La Robe pretexte“, die hier jenen Roman vorangeht, deren ich mich nicht zu schämen brauche.

Wage ich es zu gestehen, daß ich beim

Uberlesen der „Robe pretexte“ meinen Entschluß bereute? Dieser schlaffe Stil, der Einfluß, um nicht zu sagen die Nachahmung Francis Jammes aus der Zeit seiner Clara d'Ellebeuse und noch manch andere Fehler machen sie mir heute reichlich widerwärtig. Dennoch läßt sich ihre Stellung an der Spitze dieses Bandes für den an meinem Werk interessierten Leser erklären: Im Vergleich mit dem „Baiser au Lepreux“ gibt die „Robe pretexte“ die Möglichkeit, zu ermessen, welche Veränderung sich innerhalb von zehn Jahren in mir vollzogen hat. Der Autor dieser ersten Geschichte ist noch jener Chorknabe, über den ich 1927 in einem Vorwort anläßlich einer Neuauflage der „Mains jointes“ geschrieben habe: „Diese feige, ängstliche, in sich gekehrte Jugend, ich widerrufe sie. Nicht daß Ich meinen damaligen Glauben verleugnete, ebensowenig wie ich meine Dichtung verleugne aber meine Art zu glauben entsprach meiner Art zu reimen: wie einfach war alles!'

Mit dem „Baiser au Lepreux“ verändert sich der Ton so sehr, daß es dem Leser deutlich wird, daß der weichliche Jüngling in mir — zumindest auf literarischem Gebiet — seit 1922 tot war. Alle folgenden Geschichten sind bitter und hart und zeigen, außer dem „Mystere Frontenac“, kein Gefallen an dieser verweichlichten, allzu behüteten Kindheit... Der „Baiser au Lepreux“ kennzeichnet jenen Augenblick meiner Karriere, da ich zur selben Zeit wie meinen Stil auch meine Leser gefunden habe: ich erinnere mich an diese leichte Berauschtheit, je nachdem die Auflagen einander folgten, und an das Vergnügen, das mir eine wichtige mißgünstige Kritik Paul Soudays bereitete: es war die Empfindung, die hohe See endlich erreicht zu haben, ihre Schaumkronen und starken Strömungen. Jede der Gestalten des „Baiser au Lepreux“ ist erfunden: es ist ihr Schicksal, daß ich sie erfinde. Ich könnte unter jeden Peloueyre einen Namen setzen; ich habe sie alle gekannt, im alten Haus von Villandraut, auf dem Platz ... Keiner aber hat jene Dramen erlebt, die ich für ihn erfunden habe. Der echte Jean Peloueyre war nicht so häßlich, wie ich ihn beschrieben habe, und eine Frau hätte ihn lieben können, wenn er Zeit gehabt hätte, eine zu suchen. Aber dieser Elsterntöter war während des Großen Krieges selbst getötet worden, nachdem er zwei Deutsche niedergeschlagen hatte. So graben wir schlummernde Wesen unserer Kindheit aus und erfinden ihr Leben neu.

Beim Uberlesen des „Fleuve du Feu“ wurde mir klar, daß es nicht immer die Personen sind, die ich zuerst in mir entdecke, sondern eine Stimmung: In den fünfzig ersten Seiten des „Fleuve du Feu“, die einzigen, die meiner Meinung nach etwas taugen, finde ich die eines Hotels in den Pyrenäen, in ArgeUs, wieder, wo ich 1919 zwei Sommermonate verbrachte. In dem Augenblick, in dem die Personen des „Fleuve du Feu“ Argets verlassen, verlieren sie viel von ihrer Konsistenz, als ob sie für mich nur vermischt mit Wiesen und Gießbächen und in diesem abgewohnten Hotel existiert hätten, in dem ich von ihnen geträumt habe. Doch muß man glauben, daß Gisele de Plailly trotz allem vorhanden ist, da so viele Leser diesem „verlorenen Mädchen“ treu geblieben sind.

Die Hauptdarsteller von „Genitrix“ hingegen leben bis zur letzten Seite, vielleicht weil sie die Atmosphäre nicht wechseln und sich nicht aus dem düsteren Haus entfernen, das mein Großvater 1860 dem Bahnhof von Langen gegenüber hatte erbauen lassen, übrigens gehört keine der Gestalten aus .Genitrix“ meiner direkten Familie an. Ich führte diese wilde Mutter, diesen besessenen Sohn, diese hingemordete junge Frau gleichsam wie bei einem Einbruch in meine Familie ein. Aber ich habe den Sohn gekannt, und durch ihn war es mir leicht, die Züge seiner alles verschlingenden „Genitrix“ zu finden.

„Destins“ ist die erste meiner Geschichten, in der ich den Einfluß des Stummfilms enthüllte. Sie berührt mich mehr als der „Baiser au Lepreux“ und als „Genitrix“, obwohl sie sich beim Publikum nicht derselben Gunst erfreute. Durch ihre Vorzüge wie durch ihre Fehler finde ich sie ergreifender. Aber welch schlechter Titel, der übrigens auf das erst beste Buch passen könntel Es ist ein beunruhigendes Zeichen, wenn sich der echte Titel nicht aus der Erzählung herauskristallisiert, sich nicht aufdrängt. Die Mythologie hätte mich inspirieren müssen, denn Bob Lagave erinnert an Narzissus oder an Ganymed wie Elisabeth Gornac an Juno, und die ganze Landschaft wird eine Beute der Götter. Die panische Atmosphäre von „Destins“ entzückt mich immer noch, ich gestehe es: ich höre darin das Getön aller Wiesen meiner Kindheit „während der schwülen und traurigen Sommer“.

Aber Bob Lagave ist auch der Junge von 1920, den ich im „Boeuf sur le Toit“ gekannt, der „junge Mann“, den ich in einem bei Hachette erschienenen Essay beschrieben habe, dieses unbeständige Wesen, das die Jugend mit ihrem kurzen Strahl berührt und das, sobald es von dem Strahlenbündel erfaßt wird, Lüsternheit erweckt und die Zweige um sich herum brechen hört. Daß unser Körper nicht das Alter unserer Liebe hat, ist das Drama Elisabeth Gornacs. Ihr Herz erwacht zur Liebe, als sie nur noch eine plumpe, welke Frau, das Wesen, das sie liebt, aber ein zur Ausschweifung verführtes Kind ist, und der eigene Sohn, ein junger, herber und düsterer Seminarist, wird zum Zeugen ihrer Leidenschaft. Diese beiden Jungen, dieser Bob Lagave und der fromme Sohn Gornac, entstammen ebenfalls meinem innersten Wesen und verkörpern meine tiefe Gegensätzlichkeit. Das habe ich nicht gewollt, als ich sie schuf: dies war von mir in keiner Weise beabsichtigt. Aber es ist eine Tatsache, daß ich mich nun nach dreißig Jahren in dem einen und dem anderen wieder erkenne wie In feindlichen, aus demselben Fleisch geborenen Brüdern.

Wenn dieser erste Band der „Gesammelten Werke“ dem Autor auch viele Enttäuschungen brachte, so verdankt er ihm doch die Freude einer Entdeckung: die Tatsache nämlich, daß seine Gestalten von einer Geschichte in die andere übergehen und er, ohne zu wollen, einen Roman-fleuve, eine Romanreihe, geschrieben hat, und dabei den Vorteil bewahrte, sich vor jedem seiner Romane am Ausgangspunkt eines Werkes zu befinden und jedesmal eine neue Welt zu entdecken.

(Vermittelt durch „Französischen Informationsdienst“, Wien.)

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