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Gedanken eines Einsamen

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Das Urteil über die Welt wird von den Kindern gesprochen werden. Der Geist der Kindheit wird die Welt beurteilen. Tatsächlich hat die Heilige von Lisieux nichts dergleichen geschrieben, vielleicht hat sie niemals ein deutliches Bild von dem wunderbaren Frühling vor Augen gehabt, dessen Botin sie war. Ich will sagen, sie erwartete zweifellos nicht, daß er sich eines Tages über die ganze Erde erstrecken werde, daß er mit seiner balsamischen Flut, mit seinem weißen Schaum die stählernen Städte, die Betonbunker, die unschuldigen, von mechanischen Ungeheuern erschreckten Fluren und selbst den schwarzen Boden der Massengräber bedecken werde.

Man spricht immer nur vom Sieg der Heiligen, von ihrem Triumph. Da sie der triumphierenden Kirche angehören, können sie nichts anderes tun als triumphieren, das ist sicher. Einmal im Jahr lädt die militante Kirche mich ein, mich dieses Triumphes zu freuen, oder mich sogar demütiglich daran zu beteiligen, und ich gehorche. Danach bleiben mir dreihundertvierundsechzig Tage, an die Mißerfolge dieser abenteuerlichen Entdecker hienieden zu denken. Im Jahre 1207 zum Beispiel tauchte ein kleiner Mann auf den Straßen Umbriens auf. Er verkündete den Menschen eine höchst überraschende Neuigkeit, die Thronerhebung der Armut. Es war seine eigene, des Poverello Thronerhebung, die er verkündete, ohne es zu wissen. Die Frömmler sind böse Leute. Solange der Heilige neben der heiligen Armut, die er seine Dame nannte, durch die Welt ging, hatten sie keinen Mut, etwas zu sagen. Als er aber einmal tot war, was dann? Sie waren so beschäftigt, ihn zu ehren, daß die Armut sich in der festlichen Menge verloren hat. Sie hat sogar ihre Krone vergessen, die Krone für die Weihe, die man feierlich auf den Kopf des Heiligen gesetzt hat unter dem Applaus der Reichen, die höchst erstaunt waren, daß sie so billig davon kamen. Am erstauntesten von allen, glaube ich, war wiederum der Heilige, der nichts verlangt hat, weder Zepter noch Krone, und wahrscheinlich nicht wußte, was er mit diesen Attributen anfangen sollte. Was tut's! Dem mit Gold und Purpur angetanen Pöbel war es schwül geworden. Uff! — danach begannen die Geschäfte wieder anzuziehen, wie man sagt! Wahrlich, das seht ihr nicht, dieses Bacchanal der Renaissance, diese bunt gescheckten Grobiane, Fürsten, Minister, Astrologen, Kardinäle, Maler und Poeten, mit Gold behängt oder mit Eisen geharnischt, alle von der neapolitanischen Krankheit zerfressen, die wiehernd ihre infernalische Runde tanzten um das Grab des Armen der Armen, des Entdeckers unsichtbarer Kontinente, der auf der Schwelle ihrer verzauberten Gärten starb.

Und dann? Nichts, das ist alles. Der Versuch mußte gemacht werden, und er mußte sicher auch mißlingen. Niemand, außer diesem Heiligen, hat jemals im Ernst an die Thronerhebung der Armut geglaubt, niemand, außer dem Engelgleichen, hoffte je, sie bei den Völkern wieder zu. Ehren zu bringen. Ich weiß genau, daß mein Verharren auf diesem Punkt unausstehlich ist. „Eine große Zahl von Heiligen hat sich zu Dienern der Armen gemacht. Wir ehren diese Heiligen. Strahlt nicht die Ehre, die den Dienern erwiesen ward, genugsam auf die Armen, denen sie gedient haben, zurück? Man kann, ja man muß sogar beklagen, daß es den Armen an Brot fehlt, aber an Ehre? Das ist Literatur.“ Es gibt ein Mittel, alles in Ordnung zu bringen: organisiert den Kultus des Unbekannten Armen. Begrabt ihn auf dem Börsenplatz, und man wird in Paris keinen Stahl-, Kohlen- oder Petroleumkönig mehr erleben, der es nicht als seine Pflicht betrachtet, einen Kranz auf den geheiligten Fliesen niederzulegen.

Es ist eine große Täuschung zu glauben, der Durchschnittsmensch wäre nur durchschnittlicher Leidenschaften fähig. Meistens scheint er durchschnittlich allein deshalb, weil er sich gelehrig der Durchschnittsmeinung anpaßt wie der Kaltblütler seiner Umgebung. Man braucht nur die Zeitung zu lesen, um zu erkennen, daß die Durchschnittsmeinung ein Luxus glücklicher Geschichtsperioden ist, daß sie heute allenthalben der täglichen Tragik Platz macht. Um ein durchschnittliches Urteil über die Ereignisse der gegenwärtigen Zeit zu fällen, müßte man die Erleuchtung des Genies haben. Die durchschnittlichen Ereignisse sind es, aus denen der Durchschnittsmensch seinen Honig saugt, dieses süßliche Elixier, dem Andre Tardieu einmal berauschende Eigenschaften zusprechen wollte. Es ist klar, wenn ihr den Durchschnittsmenschen auf ein brennendes Reisigbündel setzt, werdet ihr mit einem Schlag seine Sekretion zum Versiegen bringen. Hat er das Feuer unter dem Hintern, so wird er sich eilig in irgendeine von den Ideologien flüchten, vor denen er früher erschreckt davongelaufen wäre. Das Verschwinden der mittleren Klassen erklärt sich vollkommen aus dem langsam fortschreitenden Untergang der Durchschnittsmenschen. Der Mittelstand ergänzt sich nicht mehr. Die Diktaturen nützen diese Erscheinung aus, sie sind nicht ihre Urheber.

Das Leben bringt keine Enttäuschung, das Leben besitzt nur ein Wort, und das hält es auch. Die das Gegenteil sagen, denen kann ich nicht helfen. Sie sind Heuchler oder Feiglinge. Die Menschen, das ist wahr, enttäuschen, allein die Menschen. Auch denen kann ich nicht helfen, die diese Enttäuschung vergiftet: weil ihre Seele schlecht arbeitet, weil ihre Seele die Toxine nicht ausscheidet. Mich haben die Menschen nicht enttäuscht, und ich selbst habe mich ebensowenig enttäuscht. Ich machte mich auf das Schlimmste gefaßt, das ist alles. Vor anderem sehe ich am Menschen sein Unglück. Das Unglück des Menschen ist das Wunder der Welt.

Aus dem Buch .Die großen Friedhöfe unter dem Mond', mit Bewilligung des Verlages der Zwölf, München, (österreichische Vertretung Zwei-Berge-Verlag, Wien.)

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