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Geht heim, Kinder!

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Die nachstehende Erzählung gewann bei dem Preisausschreiben der „Furche“ den 2. Preis.

In Koblenz fließt die Mosel in den Rhein. Das gibt viel Wasser und ist tief genug, mein TFG darin aufzuheben für immer. Ich meine das Tournister-Funkgerät Muster 32, das ich durch den ganzen Krieg getragen hatte. Zu funken gab es nichts mehr. Was noch zu sagen war, sagte unser alter, weißhaariger Oberst wörtlich: „Es ist aus.“ Und dann: „Geht heim, Kinder!“

Wie er selbst dieses Wort verstand, begriffen wir, als er sich, an der Brücke noch, eine Kugel in das Herz schoß.

Doch ich wollte es in diesen Tagen noch durchaus anders begreifen, und, als die Amerikaner schneller waren als wir, bog ich oben im Taunus die Haselstauden auseinander und ging in den Wald, ging heim, auf mrine Art, was ich eben seit jenem 17. November 1944 „heim“ nannte, jene kleine österreichische Stadt, an der Donau gelegen, wo man an jenem Tage mein junges Weib aus den Trümmern des zerschlagenen Hauses geborgen hatte, im Tode noch, wie mir später berichtet wurde, das Kind, unser Söhnlein, das einzige, sorgsam im Arme.

Gottfried hatten wir es genannt. Wie ahnungsvoll dieser Name! Er, mein Sohn, hatte den Frieden in Gott gefunden.

Und ich?

„Geht heim, Kinder!“

Was suchte ich noch? Menschen?

Ach, Menschen! Hinter Mergentheim, als ich erschöpft am Rande des Gehölzes niedersank und einschlief, wie ich eben lag, nahm einer mir den Rucksack fort. Bei Amberg machten die Bauern ihre Hunde von den Ketten los und drohten mit Prügel und Totschlag.

Nein, es gab keine Menschen mehr. Die Menschen hatten Gott verlassen. Es war alles zu Ende.

In der Gegend von Regensburg erreichte ich die Donau. Sie ist dort noch ein stiller Waldfluß, mit ruhigem, abgründig dunklem Wasser, tief wie ein See.

Nun, da ich den Fluß meiner Heimat erreicht hatte, begann die alte Wund zu schmerzen. Ich meine nicht den Granatsplitter, der mir seit Demjansk in der Schulter steckt, ich meine den Schuß von Avranches, der durch den Oberschenkel ging. Ich nahm dies als ein Zeichen, daß hier mein Weg zu Ende war.

Der Fluß rauschte, wie er mir in den Tagen der Kindheit gerauscht hatte. Es klang so gut. Ja, ich war heimgekehrt.

Es dunkelte schon in den Auen. Ich kroch, abseits der Straße, in eine leere

Scheune. Was geschehen mußte, sollte am hellen Morgen geschehen.

Die Scheune lag so nahe am Ufer, daß ich die Donau in meine Träume rauschen hörte. Wie schön war es doch, sich von diesem Wasser hinabtragen zu lassen, heim!

„Geht heim, Kinder!“ Ja, ich sah genau das unheimliche Bild, wie die beiden Männer, grobe Schiffsleute, die ich von Jugend auf gefürchtet hatte, einen aus dem Wasser zogen, mit ihren langen Hakenstangen zerrten sie ihn ans Ufer, einen Fremden, Unbekannten. Oh, sie machten sich gar keine Mühe, zu erkennen, wer dies sei. Doch ich hörte, wie der eine, der mit dem wirren, roten Bart, zum andern sagte: „Schöne Stiefel hat er. Die gehören mir!“ „Mir!“ rief der andere. „Ich sah ihn zuerst!“ Ba begannen sie zu streiten, die beiden, wie jene anderen einst um die Kleider des Gekreuzigten gestritten hatten ...

Menschen? Nichts von Mensch mehr!

Der Fluß, der liebe Fluß! Was rauschte er?

„Geht heim, Kinder!“

Da schrak ich plötzlich zusammen. Funker hören anders und mehr als sonst die Leute.

Das Besondere — ich fühlte es, eh ich es noch sah.

In der breiten Luke der Scheune saß einer. Die Umrisse seiner Gestalt hoben sich vom bestirnten Himmel ab. Ein Mensch!

Er hatte mich nicht bemerkt. Ich hielt mich stille.

Wenn die Glut der Pfeife aufglimmte, sah ich sein Gesicht, den schmalen Mund — ein Strich nur! — das harte Kinn, die hohlen Wangen, jenes Gesicht, das unser aller Gesicht geworden war.

Ein Mensch dieser Tage, dachte ich, einer, der mir, wenn ich schlief, das letzte stahl, das Brot, das wenige, das ich noch im Beutel verwahrt hielt, einer, der Gewalt brauchte, und mir die Stiefel von den Füßen riß ...

Da begann jener plötzlich zu sprechen. Er sprach wohl zu sich selbst?

„Vater unser.“

Bis ins Herz erschrak ich.

„Der du bist in dem Himmel. Geheiliget werde dein Name.“

Rauh klang die Stimme, schwer von verhaltenem Leid. Die Fäuste hielt er an die Brust gepreßt. So blickte er empor zu den Sternen.

„Zukomme uns dein Reich. Dein “Wille geschehe, wie' im Himmel also auch auf Erden.“

Ja, er betete, dieser Mensdi, der einsam war wie ich, er betete zu Gott. Dies also gab es,noch: einen Menschen, der betete.

„Unser täglich Brot gib uns heute!“

Wie unrecht habe ich dir getan, wie unrecht d*n Menschen!

„Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigem.“

Ja, vergib auch du mir, Bruder! Und bete für mich, daß Gott mich nie mehr verlassen möge.

„Und erlöse uns von dem Übel!“

„Amen!“ rief es mit Allgewalt in meinem Herzen.

Als ich mich am Morgen von meinem Lager erhob, lag der andere noch in tiefem Schlafe. Ich aber legte alles, was ich an Brot besaß, in seine graue, • abgetragene Soldatenmütze. Dann zog ich die Straße weiter.

Und mit dieser ersten guten Tat fand ich das Leben wieder; denn anders verstand ich nun jenes Wort: „Geht heim, Kinder!“ Ich verstand es als Mahnung, heimzukehren zu den Menschen, und mutig das Leben neu zu beginnen, ein Leben in Gott.

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