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GeturtstagsreJe des Oroßvaters

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Am 5. August 1914, als der erste Weltkrieg kaum zwei Tage alt war, wurde mein Großvater Andreas bereits neunzig Jahre alt. Obgleich er als Lehrer den größten Teil dieser drei Menschenalter über Bücher oder kritzelnde Kinder gebeugt verbracht hatte, hielt er sich noch immer so gerade, als hätte er das Symbol seines Berufes, den Rohrstock, verschluckt; allerdings hatte er vor seinen Vorgesetzten nie gekatzbuckelt — und dies Beugen allein macht krumm. Viele von den Generationen, die jetzt in ihren verschiedenen Lebensstadien unsere kleine Heimatstadt bevölkerten, hatten auf der Schulbank seine stille Strenge kennengelernt, seine Methode, Disziplin zu halten, war gewissermaßen berühmt gewesen. Er trat in die Klasse und stellte eine Frage: Wann war die Seeschlacht von Salamis, oder wann wurde Goethe geboren, oder welches sind die Verben auf mi — und wenn etwa niemand zu antworten wußte, dann ging er, ohne ein Wort zu sagen, wieder hinaus, bis nach einer Viertelstunde der Primus ihn aufsuchte: „Herr Lehrer, jetzt können wir's!“ Dann erschien er definitiv, stellte diesmal mit Erfolg seine Frage und tat des Versagens von vorher mit keinem Worte mehr Erwähnung; aber drei Wochen hindurch war der Unterrichtsbetrieb von einer derart würgenden Kälte und Un-gemiitlichkeit, daß es die Klasse auf eine Wiederholung des Spiels nicht ankommen ließ.

Und jetzt wurde der inzwischen pensionierte Andreas also neunzig Jahre — und das war ein Fest, das fast jeden in der kleinen Stadt anging. So hatten die Schulen sich Fackeln besorgt, die Gesangvereine, von denen er einige geleitet hatte, Jubelchöre Einstudiert, der Magistrat eine Ehrenurkunde anfertigen lassen, der Bürgermeister sich für eine Festrede präpariert; zwar war der Ausbruch des Weltkrieges zwei Tage vorher dazwischen gekommen, aber das genierte niemanden: viele, die jetzt des Kaisers Rock anziehen sollten oder schon angezogen hatten, waren ja durch des alten Andreas Schule gegangen, und in der Zeitung stand zu lesen, daß der deutsche Schulmeister den Krieg Anno siebzig gewonnen hätte und bestimmt auch den Krieg Anno vierzehn gewinnen werde, zumal wenn er so beschaffen sei wie der alte Andreas.

Als am blauen, milden Sommerabend des 5. August die Turmuhr von Sankt Ägidien die siebente Stunde schepperte, war die Straße vor Großvaters Haus ein endloses Mosaik von weißen Frauenkleidern und schwarzen Gesangvereinsfräcken, grauen Uniformen und roten Fackeln und bunten Lampions und plärrenden Blechinstrumenten, und über alldem ragte auf dem engen, eisengelän-derten Bslkon seiner Wohnung mein Großvater, sein langer, schöner, weißer Bart wehte im leisen Abendwind wie eine schwere seidene Fahne, und aus dem Porzellankopf seiner noch längeren Pfeife, auf die er auch in dieser feierlichen Stunde nicht verzichtete, stieg ein Wölkchen, das, wenn auch nicht im Geruch, so doch im Aussehen, einem Weihrauchwölklein glich.

Seine Söhne und wir Enkel drängten uns in der Tür des Balkons, dicht hinter Großmutter, welche die Verbindung zwischen dem Gefeierten und uns darstellte. Wir lauschten den Kommandos, Chören und Reden, die von unten heraufdrangen, und es war ersichtlich, daß man das Festprogramm in aller Eile der neuen Sachlage angepaßt hatte. Die Blechmusik spielte nicht „Gaudeamus igitur“, sondern „In der Heimat, in der Heimat, da gibt's ein Wiedersehn“; der Massenchor sang nicht „Ein Hoch im harmonischen Klang“, sondern „Der Gott, der Eisen wachsen ließ“; und der Bürgermeister lobte in seiner Rede weniger die pädagogischen als die kriegerischen Verdienste des alten Andreas, der die Kämpfe von Anno vierundsechzig, Sechsundsechzig und siebzig mitgemacht hatte. Nach dem Rückblick in die Vergangenheit tat der Bürgermeister den Ausblick in die Zukunft und sprach von dem Herrlichen, das der Jubilar noch erleben dürfe, Sieg und Eroberung und glorreichen Frieden. Nach jedem Kraftwort schrie die Menge Hurra, und mein Vater, mein Onkel, meine Vetter und ich, die wir hinter dem Großvater standen, schrien mit. Nach dem Hoch auf den allerhöchsten Kriegsherrn sangen wir mit entblößten Häuptern „Heil dir im Siegeskranz“, und dabei wurden mir—ich war erst zwölf Jahre alt — die Augen feucht.

Dann sollte mein Großvater reden. Er war als ausgezeichneter Redner bekannt. Er gab die Pfeife in Großmutters Hand und trat ganz vorn ans Geländer des Balkons. Er stand wie auf einem Katheder, er beugte sich leicht vornüber und blickte über die unabsehbare Masse wie über eine große Klasse von Schülern. Die Klasse sah den Lehrer an und schwieg ... es wurde ganz still.

Und der Lehrer fragte laut, langsam und deutlich: „Für wen und für was?“

Drunten hielt man das für den rhetorischen Beginn der Rede. Und als Großvater schwieg, wartete man. Großmutter wagte es, Großvater von rückwärts leise zu stupsen. Aber Großvater reagierte nicht. Er blickte stumm über die Menge da unten, als wartete er, daß sich eine Hand erhöbe, um sich zu melden: „Ich weiß. Herr Lehrer!“

Aber es meldete sich niemand. Uber des Bürgermeisters Gesicht lief ein unbehagliches Zucken. Der alte Mann da oben hatte, schien es, den Faden verloren.

Eine Minute verging. Dann sagte der alte Andreas, noch lauter als vorhin, jedes Wort ganz schwer und deutlich, mit einem bösen Unterton in der Stimme, ein Lehrer, der ärgerlich und traurig wird: „Ich wiederhole: Für wen und für was?“

Die scharfen, großen, blauen Augen des Lehrers blickten streng auf die Klasse. Aber die Klasse schwieg.

Da wandte sich der Lehrer um, schob Großmutter vor sich her, die ihn aufhalten wollte, drängte sie und damit uns durch die Balkontür ins Zimmer zurück und schlug die Tür schallend hinter sich zu,

Wir standen stumm und verdattert herum, Großvater nahm seine Pfeife aus Großmutters Hand, setzte sich in sein Sofaeck, rauchte und wartete. Er wartete lange; von draußen hörte man nach einer quälenden rauschenden Stille der Verlegenheit ein paar Kommandos, das Abscharren vieler unwilliger Füße. Und dann waren alle fort. Aber kein Primus kam und sagte: „Für wen und für was,.. ? Herr Lehrer, jetzt wissen wir's!“

Am nächsten Tag schickten sie dem alten Andreas einen Arzt, der ihn untersuchen wollte. Großvater lehnte ab und war von da an geächtet — auch von mir und all seinen Enkeln. Er starb zwei Jahre später — gerade als seine Frage mich und manchen andern zu beschäftigen begann.

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