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Gro ßes Welttheater in Wien

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Im schmalen Raum einer Wiener Woche sah die festliche Stadt grofies Welttheater zu Gast. Beginnen wir mit dem groBten. Aischylos, „Die O r e s t i e”, zwei- ter und drifter Teil (Totenopfer und Eu- meniden), dargeboten vom P i r a i k o n Th ea t r on, Athen, in neugriechi- scher Sprache; Festwochenaufffihrung im Volkstheater. Der achtundsechzig- jahrige Aischylos, der Erzvater unseres europaischen Dramas, hat 458 vor Christus die drei Tragodien der Orestie und das verlorene Satirspiel Proteus aufgeffihrr. Uber der Biihne der griechischen Geschichte lag Blutgeruch: Menschenopfer unerhort; Menschen, von Barbaren ge- opfert, verschnitten, verstiimmelt (Apollo spricht offen in den „Eumeniden” diese Opfer an). Die Menschenopfer Asiens. Aischylos hat bei Marathon, Salamis, Pla- taa gekampft. Die Menschenopfer Earopas, Griechenlands. Es soil nicht writer so ge- mordet, geschlachtet werden. Aischvlos beschwbrt die Lebenden, als Lebendige: schafft Frieden. Der hohe FrieJe aber setzt eine Ubereinkunft der Marine des Himmels und des Abgrundes voraus. Nie mehr hat in dieser Offenheit europaisches Theater solches gewagt: den Frieden der Menschen rfickzuffihren, einzustiften in einer Versohnung von „oben” und „unten”, der hellen und der finsteren Gotter, Got- tesmachte. Athene, die zeusentsprossene, stiftet den Friedensraum der athenischen Demokratie, indem sie den Areopag, den Obersten Gerichtshof, aufbaut fiber einer Hbhle, in der sie die Eumeniden, die furchtbaren Gottinnen der Rache, des Hasses, beheimatet. Friede, Recht sind leerer Schall, Worthauch, so sie nicht auf diesem Untergrund ruhen: auf den dun- kelsten und tiefsten Leidenschaften des Menschen, auf den starksten Kraften im Kosmos. Im Streit Apollons mit den Eumeniden wird nicht nur ein tausendjahri- ger Kampf von Vatermacht und Mutter- ‘macht ausgetragen, sondern mehr: die lichte Seite der ganz undurchsichtbaren Gottheit, wird einer Menschheit sichtbar, die bis dahin im Gottesschatten, im „Zorn” (Zorn Gottes und der Menschen) gelebt, gerast hat. Ist es noch notig, dies anzusagen? Erste (und letzte) Chiffren unserer Geschichte, unseres Dramas, unse- rer Feste werden da von Aischylos berufen.

Dimitrios R o n d i r i s, der mit dem Griechischen Tragodientheater die Orestie in Wien darbrachte, hat in Berlin und Wien studiert, und bekleidet seit Jahr- zehnten eine ffihrende Rolle im neugrie- chischen Theaterleben. Was er hier bot, ist mehr, als hier zu lernen war, oder heute zu lernen ist. Wir haben in Wien nie einen Chor gehort, der solches bot, wie dieser Frauenchor unter Ffihrung von

M. Vassiliou, A. Kariofylli, N. Debonera. Liturgie, sakraler Tanz, archaische Zauber- riten (am Balkan bis heute erinnert und praktiziert), Volkslied (als Zaubersang, Carmen); das Rasen orgiastischer Kulte, der Enthusiasmos, die Begeisterung der fruhchristlichen Frauen im Gottesdienst (die den heiligen Paulus so sehr erschrak, dafi er das gefahrliche Wort setzte: „Die Frau schweige in der Kirche”); dieses also: alte, uralte, voreuropaische und altgriechi- sche Elemente tragt, verkorpert dieser Chor und verschwistert sie, nahtlos, mit dem, was Ausdruckstanz und neueuropii- ische Schulen des individual geformten Tanzes mitteln. Scharf akzentuiert, bricht die einzelne Stimme aus diesem Chor auf; und vermahlt sich gleich wieder der Welle, dem Wind, dem Gesamtchor. Die nackte Armseligkeit „unserer” Chore — in nah- vergangenen Auffiihrungen griechischer Tragodien — wurde hier nochmals bewufit. Th. Kalliga als Elektra, D. Veakis als Orest, A. Papathanassiou als Klytaemnestra und nochmals Th. Kalliga als Pallas Athene treten eindrucksvoll diesem mach- tigen Chor gegenuber.

Jean Anouilhs „Antigone”; Gastspiel des Theatre de I’Atilier in der Josefstadt. Andre B a r s a c q hat 1944 dieses Drama erstmalig heraus- gebracht, im besetzten Paris, und prasen- tiert es nun 1961 in Wien. Antigone im Abendkleid, Kreon im Frack, die Wachen in Plastikmanteln fiber den Smoking. Kein Schmuck der Biihne: das Paris der Jahre 1940 bis 1944 gewandet sich nur in diesen einen Schmuck: das Wort seiner Dichter, das den Schrei der Resistance in Poesie ausmfinzt. Anouilhs Antigone ist das Mad- chen Jeanne, die Jeanne d’Arc der Resistance: schmal, Schwach, zerbrechlich, hysterisch scheint sie; und ist doch Feuer- funke. aus Promethidengeschlecht. Nie wird sich diese Frau dem klugen Fuchs,

dem wohlredenden Diktator, der infamen Wohlberedthrit der „anstandigen” Mit- macher unterwerfen. Anouilhs Kreon ver- einigt Ziige von Jfingers Oberforster (aus den „Marmorklippen”), von Hitlers hinter- haltiger Freundlichkeit, von der todlichen Bonhomie des Georgiers, mit den bieder- mannischen Zfigen heutiger Diktatoren. Ein formidables, furchterregendes Zwitter- wesen ist dieser Mann, der wie aus einem Gufi erscheint, und, nach vollbrachter Tat in den Staatsrat geht, Im Frack. Julien Bertheau gestaltet diesen Kreon bewun- dernswert. Modern, gegenwartsnah ist in seiner Maske nicht zuletzt die des „Nor- male”, Klug-Sichere des perfekten politischen Mbrders von heute. Catherine Sellers i s t Anouilhs Antigone; seit dem frfihen Mittelalter zogen in Frankrrich Frauen, oft Junge Frauen, in den Kampf, in die Schlacht. Hier ist ihr Feuer, ihr Wille, ihre Opferkraft zugegen. Keine falsche Pathetik; sie und die zugehbrige Sentimentalitat zu verhindern, ist nicht zuletzt der Sprecher da: Marcel D’Orval bekundet, dafi der Schmerz der Reinheit bedarf: der Ironie, der Distanzierung, des bewufiten Abstandnehmens.

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Was soil man, freundlich, dem liebens- werten Gaste, dem Dusseldorfer Schau- spielhaus und seinem Generalintendanten Karl Heinz S t r o u x, sagen, die mit Claudels „Seidenem Schuh” im Burgtheater ihren Beitrag zu Wiens Festwochen gaben? Den Wienern ist die Auffiihrung vor zwolf Jahren in guter, leuchtender Erinnerung. Vergleichen wir nicht. Sprechen wir nur von Claudel und dieser Auffiihrung. Claudels Riesenwerk ist eine Symphonic, die kosmische Aus- mafie anstrebt. Den Sang der ffinf Kon-

tinente, in der Geschichte der Welt und des Himmelreiches, zu Ehf und Ruhm des Schopfers und seines Geschbpfes, des Menschen, wollte Claudel singen. Anders und starker ist dies, in der Dichtung einem Landsmann Claudels, einem dezidierten Nichtchristen gelungen: Saint-John Perse. Claudel fibernimmt, fiberfrachtet sich, und schleppt mit sich viel Ballast in Wort und Bild und Gedanke, von der Romantik bis zum Symbolismus. Heikel und schwer ist’s, diese Symphonic auf-zu-losen, in szenische Gebilde, ohne sie zu zerstdren.

Schon Jean-Louis Barrault hat mit seiner Buhnenfassung viel liebe Mfihe gehabt. Stroux greift zum Seziermesser: er schnei- det aus den kosmisch-fiberkosmischen Vi- slonen und Gesangen einige Wort-Streite heraus, stellt diese mit hoher, Strenger Wort-Kunst auf die Biihne; dieses Biihnen- bild ist eine hochtrabende Verlegenheit, ganz fehl am Platze; fiir diese intellek- tuelle Auffassung ware ein nichtflimmern- des lineares Gebilde, am besten ein leerer Raum passend. Resolnt verweist dieser Meister das Kosmisch-Katholische, Sakrale und Sakramentale (mit all seinen Ge- fahren!), dazu viel Poesie (als Weltbau- kunst) von der Biihne. Es bleibt: die sehr schone, reif die Rolle erfassende Maria Wimmer als Donna Proeza; sie ist Grbfie, Glanz, Gewinn des Abends. Neben ihr, auf Distanz, Werner Dahms als Rodrigo, der (wiederum nicht im Sinne Claudels) Don Camillo (Wolfgang Arps) um Strek- ken schlagt. Hell, klug, ironisch, wie ein Sendbote Brechts, springt Otto Rouvel als Ansager auf die Biihne. Dfisseldorf, diese altberiihmte Stadt deutscher Auf- klarung. hatte mit Brecht wohl glaubwiir- diger als mit Claudel gastiert… Die crofie Bemuhung — und die Reverenz an Wien, die ..Barockstadt” — verdient den herzlichen Dank der Wiener.

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