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„HITLER - NIE GEHÖRT!“

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Es ist ein schrecklicher, ein äußerst deprimierender Film, den uns der junge Regisseur Bertrand Blier — Sohn des bekannten Filmschauspielers Bernard Blier — mit dem Streifen „Hitler … čonnais pas“ bescherte. Sobald man das Kino verlassen hat, kommen quälende Zweifel, ob dieses erschütternde Dokument in seiner exhibitionistisch-grausamen Nacktheit zu loben oder zu verurteilen ist. Dabei ist es nicht die von französischen Kritikern leidenschaftlich diskutierte Frage, ob die nüchterne Lebensbeichte von elf Jugendlichen unter zwanzig Jahren, sieben Jungen und vier Mädchen, wirklich repräsentativ für den gegenwärtigen französischen Nachwuchs ist (oder ob es sich hier um Einzelerscheinungen handelt), die uns bewegt, sondern die einfache Frage nach dem Sinn einer so rücksichtslosen Bloßstellung vor den Augen der Masse.

Man schafft die Schizophrenie nicht aus der Welt, indem man ihre Symptome an typischen Modellen vorführt,

Hitler — nie gehört“ wird vermutlich Frankreich nicht verlassen. Das liegt an der technischen Eigenart des Films: Er hat keine Handlung im üblichen Sinne, sondern ist eine An- einderreihung von Monologen. Man kann ihn am besten als eine Zusammenfassung von elf Vernehmungsprotokollen bezeichnen, die durch das Erscheinen des jeweils Befragten auf der Leinwand — man sieht fast durchwegs die Gesichter in Großaufnahme — optisch zu einem unheimlich suggestiven Leben erweckt werden. Die Tatsache, daß es sich bei den Jugendlichen nicht um Berufsschauspieler, sondern um qualitativ bescheidene Durchschnittstypen aus dem täglichen Leben handelt, verstärkt nur die Glaubwürdigkeit und die Wirkung, unmittelbar angesprochen zu werden. Bertrand Blier verzichtet nicht auf das filmische Beiwerk des Schminkens und des künstlichen Typisierens, auf die Vorführung verkrampfter Hände und nervös zuckender Beine. Er nimmt die Möglichkeiten der Geräuscheffekte und des Spiels von Licht und Schatten reichlich wahr; ja, er scheut auch nicht vor gewissen Tricks zurück. So läßt er gelegentlich Berichte von -anderen Darstellungen unterbrechen, um die Illusion von Diskussionen zum gleichen Thema zu wecken, obwohl er selbst zugibt, daß die jungen Leute nie einander begegnet sind und jeder einzeln für sich gefilmt wurde. Wie er dies tut, ist freilich meisterhaft — sowohl in dramaturgischer, als auch in psychologischer Hinsicht.

Überdies schafft er sich durch Anwendung eines „Übertricks“ ein sehr geschicktes Alibi: Ab und zu blendet er die unpjersön- lich-kalte Technik des Studios mit seinen Scheinwerfern, Kabelsträngen, Kameras und Tonaufnahmegeräten ein. Das läßt die Jungen und Mädchen, deren Offenbarungsbereitschaft einem inneren Zwange zu entspringen scheint, noch einsamer und ratloser in ihrer armseligen Beschränktheit wirken. Ihre umstrittene Ehrlichkeit kontrastiert dann plötzlich in seltsamer Weise mit der Lüge der zur Schau gestellten Selbstsicherheit. Einmal verliert ein junges Mädchen, das mit monotoner Zerknirschtheit die Alltagstragödie einer vom Geliebten verlassenen ledigen Mutter erzählt, die Nerven und fleht: „Hört auf, ich kann nicht mehr ..Man blendet einige Minuten lang ein anderes Geständnis ein und kehrt dann zu dem Mädchen zurück, das gefaßt — als sei nichts vorgefallen — über sein Schicksal weiterberichtet.

Man sieht und hört den Fragesteller nicht; aber man ahnt, daß er grausam und unerbittlich sein muß, wenn er — umein Beispiel herauszugreifen — den Anhänger marxistischer Theorien, mehrfach aufgeschnappten und mißverstandenen Unfug wiederholen läßt und offenbar Gefallen daran findet, daß der Junge „Dottojewskij“ zu seinen Lieblingsautoren rechnet. Obwohl die Gesichter rasch an unseren Augen vorüberziehen, bleiben sie doch durch Ausdruck und Aussage als Typen im Gedächtnis haften. Der Betrachter wird sieh noch lange des bebrillten Strebers erinnern, der nach mittelmäßigen Schulleistungen in der militärischen Laufbahn — das Soldatentum ist für ihn das Ordnungssymbol schlechthin — die Sicherheit sucht. Er hat nichts gegen Arbeiter. „Sie sind zwar etwas direkt in der Form, aber gewiß ganz brauchbare Leute.“ Die Scheinheiligkeit, sagt dieser junge Mann im Vollbewußtsein seiner Überlegenheit, sei dazu da, um einem das Leben zu erleichtern.

Unvergeßlich bleibt auch der junge Arbeiter, der von den Eltern fortlief, weil er ihre ewigen Streitereien nicht mehr ertragen konnte. Um sich Geld zu beschaffen, überfällt er eine alte Frau. Später weiß er mit den 400 Francs, in seinen Augen eine hohe Summe, nichts anzufangen. Er erfängt sich und entwickelt sich nicht zum Verbrecher. Nun findet er seine Alltagszerstreuungen im Verführen naiver Mädchen. Er schildert lang und breit, welche Technik er anwendet, um sie sich bereits auf den Tanzveranstaltungen für weitere Abenteuer gefügig zu machen. Er sieht darin nichts Anstößiges, sondern einen ganz natürlichen, amüsanten Zeitvertreib. Er deutet an, daß es andere Jugendliche nicht anders machten.

Da ist der attraktive Jüngling aus reichem Haus, der genüßlich und zugleich gelangweilt erzählt, wie er sich erst gegen Mittag zu erheben und den Rest des Tages als Playboy zu verbringen pflegt. Das Leben hat für ihn keine Probleme. Diese sind nach seiner Ansicht anderen sozialen Schichten Vorbehalten.

Da ist das Amatęurmannequin, das einmal vier Tage lang zu arbeiten versuchte, um dann erneut ins Bummelleben „in den Tag hinein“ zurückzufallen. Das Mädchen verbirgt seine innere Hohlheit hinter einem Wortschwall über Autos, schöne Kleider, anziehende Männer und Twist.

Am erschütterndsten aber ist das Bekenntnis einer Neunzehn- -G . jährigen, die als einzige über den Intelligenzgrad der übrigen Jugendlichen hinausragt. Ihr Weltbild ist von reinem Nihilismus geprägt, wie ihn auch Ferdinand Bruckner vor 35 Jahren nicht hätte plastischer symbolisieren können. Das Mädchen gibt zu, daß sie seine intimen Männerabenteuer kaum zählen könne. Es sind für sie notwendige, wenn auch kaum erwähnenswerte Requisiten des Zeitvertreibs und der Hygiene. Was im Leben wirklich zähle, sei das Harte, Greifbare, Materielle — das Geld. Im Tod erblickt sie das Ende aller Dinge, das ewige Nichts. Sie möchte eingeäschert und nicht begraben werden, weil sie der Gedanke der Dekomposition des eigenen Körpers anekelt. Im Atomkrieg sieht sie ein ganz nützliches Mittel, um der Übervölkerung der Erde entgegenzuwirken. Nichts ist ihr verhaßter, als die Gesetzmäßigkeit der bürgerlichen Existenz. Trotzdem gesteht sie, daß sie eines Tages „ganz in Weiß“ heiraten wolle - einen Mann, der ihren Vorstellungen eines bequemen und materiell gesicherten Daseins entspricht. Sie glaubt nicht an den abstrakten Begriff der Liebe. Die Ehe ist ihr nur Vorwand und Rückhalt, mehr nicht.

Man kann nicht leugnen, daß dieser Film mit der Vorführung der Willenlosen, Abgebrühten, Mittelmäßigen und Zyniker, wenn auch nicht den Durchschnitt, so doch einen recht ansehnlichen Ausschnitt der gegenwärtigen Jugend zeichnet. Doch er löst keine Probleme. Er wird die Soziologen um keinen Schrift weiterbringen, auch wenn sie einmal mehr in erschütterten Ehen und Versagen der Eltern eine Ursache des Verfalls erblicken werden.

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