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Ignatius und der Text der Matthäus-Passion

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Daß die Matthäus-Passion nicht nur ein „Vokalkonzert“ sein will, nicht nur die Vertonung irgendeines beliebigen Textes, sondern „Oratorium“ im vollen Sinn, das heißt betende Musik, gesungene Betrachtung, kann niemand übersehen, der neben der Musik dem Text auch nur einige Beachtung schenkt. Jedermann wird sich diesen Wesenszug des großen Werkes an den eingelegten Chorälen klarmachen, und besonders an den Arien, die den gefühlsmäßigen Widerhall, die religiöse und sittliche Anwendung der Szene oder des Bildes geben, an das sie anknüpfen und bei dem sie sozusagen betrachtend verweilen. Reue über die Sünden, die das Leiden des Herrn nötig gemacht haben, Mitleid mit dem unschuldig für uns Schuldige Leidenden, Dank für die Leidenstat des Gottmenschen drücken sich jeweils ergreifend in den einzelnen Arien aus.

Es werden aber nicht allzu viele sein, die sich Gedanken über die — eigentlich befremdlichen — Eingangsworte gemacht haben, den Eröffnungschor, der rläch der Aufforderung: „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ (die Töditer sind die „Töchter Sions“, die im Hohenlied, das allegorisch auf die Vermählung Christi mit der Kirche gedeutet wird, die „Braut“, das heißt die Kirche, begleiten) mit den Worten fortfährt: „Sehet — wen? — den Bräutigam. Seht ihn — wie? — als wie ein Lamm. Sehet — was? — seht die Geduld. Seht — wohin? — auf unsre Schuld.“

Das klingt etwas sonderbar, „barock“, ja sogar pedantisch. Noch erstaunlicher ist aber, daß wir die Erklärung für diese Einleitungsformel (letzten Endes) in einem Werk suchen müssen, dessen Einfluß wir hier am wenigsten vermutet hätten, das aber auf die Ausgestaltung des Oratoriums — weil es sich eben um betend-betrachtenden Gesang handelt — eine entscheidende Wirkung gehabt hat: es sind die geistlichen Exerzitien des hl. Ignatius von Loyola, seine allgemeinen Regeln der Betrachtung. Zum Unterschied von der hochmittelalterlichen Betrachtungsweise, die aus dem Satz der Glaubenslehre, dem Faktum der Glaubensgeschichte mehr die allgemeine dogmatische Bedeutung herausheben will, und oft sogar das Tatsächliche als Allegorie zu behandeln geneigt ist, strebt die spätmittelalterliche und barocke Betrachtung nach möglichster Vergegenständlichung. So konkret als möglich soll man sich den Vorgang vor Augen stellen und verdeutlichen, den man betrachten will. Dazu soll man sich das, was geschieht, so klar als möglich machen, die-Handlung nach allen „circum-stantiae“ erwägen. Diese „circumstantiae“ werden aber seit alters her, sowohl in der grammatischen Analyse als in der moraltheologischen Beurteilung, in den Merkvers zusammengefaßt: quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando. Wer ist es, der handelt? Was ist das, was er tut? Wo tut er es? Mit welchen Hilfsmitteln tut er es? Warum tut er es? Wann tut er es? Mit leichter Variation liegt dieses Fragenschema — mit den betreffenden Antworten — dem angeführten Einleitungschor zugrunde. Es ist die übliche, vernunftmäßige Vorbereitung auf die Betrachtung.

Dann soll, nach Ignatius, die Phantasie eingreifen. Man soll sich die betrachtete Handlung so deutlich vorstellen, daß man in der Vorstellung selbst dabei zu sein meint und sich selbst an den Ort versetzt, an dem sie geschehen ist; dazu ist es nötig, sich diesen Ort so klar als möglich vor Augen zu stellen. Das nennt er die „compositio loci“. Wenn dann die Handlung unser Vorstellungsvermögen so lebendig erfaßt, als ob wir bei ihr selbst

,-rtrtTiTiräi-ti™ nfäron Hann prrrrpift sie auch unseren Affekt. Um dies zu befördern, soll man sich immer denken: Was hätte ich, wenn ich dabei gewesen wäre, in dieser Lage getan? Was hätte ich zu den Personen der Handlung gesprochen? Dieses dritte Element der Betrachtung, das sogenannte „colloquium“ (die „Unterredung“), ist für die Textgestaltung der ganzen Matthäus-Passion wesentlich. Von der an Jesus gerichteten Frage an, bei der Erzählung von der Anklage des Hohen Rats

.Herzliebster Jesu, was hast Du verbrochen?“ ist dieses Element entscheidend für alle in den Bericht der Hl. Schrift eingelegten Texte.

Bei der Erzählung von der Fußwaschung und Salbung durch Mafia Magdalena bittet die betrachtende Seele: „So lasse mir inzwischen zu von meiner Augen Tränenflüssen ein Wasser auf dein Haupt zu gießen.“ Die Einsetzung des hl. Abendmahls wird mit den Worten aufgenommen:

„Sein Fleisch und Blut, o Kostbarkeit, vermacht er mir in meine Hände.“ Auf dem Bericht vom Schlaf der Jünger in Gethsemane antwortet der Betrachtende:

„Ich will bei meinem Jesu wachen.“ Bei der Gefangennahme Jesu rufen die Betrachtenden aufgeregt dazwischen: „Laßt, ihn, haltet, bindet nicht!“ Nach seiner Wegführung sucht wieder die Braut des Hohenliedes (die „Schönste unter den Weibern“) mit den „Töchtern Sions“ nach dem Entschwundenen:

„So wollen wir ihn mit dir suchen.“ Das Schweigen Christi vor dem Richter gibt Anlaß zu einer Anwendung des Beispiels („um uns damit zu zeigen ...“) und mit dem büßenden Petrus weint die betrachtende Seele mit:

„Schau hier, Herz und Auge, weinet vor dir bitterlich.“

Und bei der Frage des Pilatus: „Was hat er denn Übels getan?“ greift sie im Geiste in die Handlung ein, den Beschuldigungen der Juden zuvorkommend:

„Er hat uns allen wohlgetan.“ Bei der Geißelung ruft sie dazwischen: „Ihr Henker, haltet ein!

Ach ja, ihr habt ein Herz, das muß der Martersäule gleich und noch viel härter sein.“

Und als Joseph von Arimathia Pilatus um den Leichnam Jesu bittet, versetzt sie sich (symbolisch) auch in seine Rolle: „Ach, liebe Seele, bitte du, Geh, lasse dir den toten Jesum schenken, o heilsames, o köstlichs Angedenken.“

So geht es bis zum Ende, wo der betrachtende Chor sich im Geiste am Grabe Jesu sieht und ihn wiederum selbst anredet:

„Mein Jesu, gute Nacht! und so beschließt:

Wir setzen uns mit Tränen nieder und rufen dir im Grabe zu:

Ruhe sanfte, sanfte ruh'!“ Damit aber weist der Text, über das bloß Vorstellungsmäßige der Betrachtung hinaus, auf eine dramatisch-rituelle Veranschaulichung des heiligen Geschehens hin, wie sie dem Geist des spätmittelalterlichen Mysterienspiels und der barocken Volksfrömmigkeit entspricht: auf die Sitte des „hl. Grabes“. Die liturgische Symbolik in ihrer offiziellen Form versinnbildlicht den Tod Christi in der Weise, daß in der Karfreitagsmesse (einer Messe ohne Wandlung, da die tags zuvor geweihte Hostie gebraucht wird) das Altarsakrament aus der Kirche verschwindet; bis zur Ostermesse ist das Tabernakel leer'. In einer viel plastischeren Weise hat sich die Volksfrömmigkeit im „heiligen Grab“ eine Andachtsform geschaffen, die sie an den Kartagen gewissermaßen die Grablegung Christi real miterleben läßt. Der Geist dieser Vergegenständlichung des Besuches am Grabe Christi (dieser gerade in Wien so verbreiteten Sitte) spricht auch aus den Schlußworten der Matthäus-Passion, ein Beweis für die enge Gemeinschaft des religiösen Erlebens, die, über die Schranken des Gegensatzes von Katholizismus und Protestantismus hinweg, auf Grund der gemeinsamen Inspiration diese verschiedenen Zeugnisse barocker Volksfrömmigkeit verbindet.

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