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Kennen Sie die Milchstraße:

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Die Zukunft gehört vermutlich der eigenen Kuh auf dem Balkon oder im Schrebergarten.

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Die Zukunft gehört vermutlich der eigenen Kuh auf dem Balkon oder im Schrebergarten.

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Auf Kenner ist Verlaß. Aber wer ist ein Kenner, ein Adept, ein Conniseur? Einer, der am Glase zögerlich nippt, mit Zunge und Augen rollt, die Stir-ne in angestrengte Falten legt, dann den Blick senkt und seine Stimme nach einer Weile meditatiyen Grübelns vernehmen läßt.

Er nennt nicht nur die Sorte, die auch der routinierte Weinbeißer kennt. Er nennt auch Lage und Jahrgang, spricht von Blume, Gehalt, Süße und Säure, er verfolgt den Tropfen bis zu den Wurzeln von Boden und Klima, er gebraucht das önologische Fachvokabular bis zu den feinsten Geschmacks- und Inhaltsstoffen, und verleiht dem Wein schließlich noch Schweif und Abgang.

Versteht sich, daß solch hohepriesterliches Kennertum selten und Icostbar ist, mit ehrfürchtigem Beifall belohnt wird und den Laien in Staunen versetzt.

Nur intensives theoretisches Stu-

dium, gepaart mit jahrelanger Übung und Praxis, führt zu diesem intellektuell-erotischen Verhältnis zum Wein. Vergleichbar ist solche Gaumen-Kunst nur noch der Nase berühmter Parfum-Kompositeure. Zwar gibt es auch Bier-Kenner und Bräu-Adepten, aber schon ihr Vokabular unterscheidet sich von den Önologen wie der Klang einer lui-gen Ziehharmonika vom Strich eines Viohn-Virtuosen.

Österreichs Erfolgsgeneration, die ja bekanntlich weder Wein noch Bier trinkt und auch die familienfeindlichen Dreierbeziehungen des Mineralwassers scheut, ist bei den internationalen Frischwärts-Beför-derem der Diskussion um Geschmacks-Nuancen weitgehend enthoben. Die Entscheidung zwischen normal oder „light" liegt auf der Ankreuzungsebene des Totoscheins oder der Funktion des Computer-Chips. Und doch versetzte es vor einigen Wochen der Zunge der Nation einen gelinden Schlag. Milch, das geheime Erfolgsgetränk, bisher nur in Relation von Preis und Familienbeihilfe oder neuerdings als bedrohliche Europa-Schwemme im öffentlichen Gespräch, vrarde plötzlich zum Geschmacks-Artikel.

Pessimisten behaupteten von ihr wie von vielen täglichen Gebrauchswerten, sie sei auch nicht mehr das, was sie eirmial war. Denn die neuen Wirtschaftsräume brachten Österreichs Milchströme dmrcheinander.

Unglaublich, wie viele Landsleute da über Nacht zu Milch-Conisseuren vrarden, das Glas (oder den Plastikbeutel) kermerisch zum Munde führten und angewidert feststellten: Anders!

Mittlerweile kennt kein Mensch mehr genau die Milchstraßen, auf denen der standardisierte Kuh-Saft seine Langstrecken-Wege zieht. Von Bayern nach Kärnten und umgekehrt, von Vorarlberg nach Wien, von der Steiermark nach Schwaben. Vermutlich wäre die Anlage von Pipelines mit variablen Verzweigungen bald zweckmäßiger.

Die Salzburger, heimattreu zu ihren Kühen, ließen sich das landfremde Erfolgsgetränk nicht lange unterjubeln und bestreikten die Supermärkte, die ihrerseits reuig zum andeseigenen Milchhof zurückkehrten.

Die europäische Milchmädchenrechnung geht doch nicht ganz so klaglos auf Daß auch noch die Ablaufdaten wegen der längeren Transportwege \mi mehr als das Doppelte verlängert wurden, bringt die Konsumten vollends in Rage.

Und nun geschieht, was bisher nur in Vinotheken üblich war. Man kauft nicht mehr einfach Milch. Kritische und kennerische Kunden vvünschen vielmehr, die Milch vorher zu kosten. Schon bildet sich vereinzelt das den Weinkennem abgeschaute Zeremoniell aus.

Die Zukunft gehört vermuthch der eigenen Kuh auf dem Balkon oder im Schrebergarten. Die Beobachtung der Milchstraßen scheint denn doch zu anstrengend und verwirrend.

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