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Korsika - St. Helena der Fremdenlegion

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AM VORMITTAG IST DIE LINKE STRASSENSEITE des Cours Paoli, der Hauptstraße von Corte, mäßig belebt, während die Sonnenseite menschenleer bleibt. Am Nachmittag wechselt die Szenerie. Mittags aber, wenn das Himmelsgestirn schonungslos und grausam seine ganze Kraft entfaltet und die Temperaturen auf 40 Grad ansteigen läßt, ist das malerische Städtchen wie leergefegt. Massiv und drohend, vor Jahrhunderten in kahles Gestein gehauen, blickt die Felsen-festung auf den Besucher herab. Es gibt wohl kaum ein Bauwerk im gesamten französischen Herrschaftsbereich, auf dem die Trikolore stolzer, selbstbewußter und erhabener als Machtsymbol wehen könnte, als über der Zitadelle von Corte, denn hier schlägt das Herz eines eigenwilligen Inselvolkes, das weder Chaos noch Hungersnöte zu brechen vermochten, das die Herrschaft der Vandalen, Goten, Byzantiner, Lombarden und Sarazenen überstand, das trotzig dem merkantilen Geist der Genuesen Widerstand leistete und das dem ruhmreichsten Franzosen, Napoleon Bonaparte, das Leben gab. Etwas unterhalb der Trikolore weht die Flagge der Fremdenlegion, von der 2000 Mann im Juni aus Algerien nach Korsika verlegt wurden. Vor dem Eingang zur Zitadelle halten zwei junge Legionäre in leichten Sommeruniformen Wache. Sie haben undurchdringliche Gesichter. *

HÄTTE MAN DEN LEGIONÄREN, denen die Korsen vor zwei Monaten einen herzlichen Empfang bereiteten, schönere Garnisonen geben können, als das bezaubernde Bonifacio und dies romantische Städtchen Corte mit seinen lieblichen Gärten? Doch dieser Schein trügt. Die umlaufenden Gerüchte, daß insgesamt 200 Legionäre ihre Garnisonen verlassen hätten, sind inzwischen dementiert worden. Aber auch die eingestandene Zahl von 63 Desertionsversuchen — 20 Männern gelang die Flucht nach der Insel Elba, 10 ertranken unterwegs dorthin, weil sie sich seeuntüchtiger Boote bedienten, die übrigen sind im Maquis der Insel untergetaucht, und man hat zu ihrer Jagd 150 zusätzliche Sicherheitsbeamte vom Kontinent entsandt — enthüllen den ganzen Ernst des Problems. Entscheidend ist die Tatsache, daß die Masse der' Legionäre bewußt oder unbewußt empfindet, daß die Zeit, in der man ihrer bedurfte und ihnen Gelegenheit gab, Ruhm an ihre Fahnen zu heften, unwiderruflich zu Ende gegangen ist und eine Seite in der französischen Militärgeschichte umgeschlagen wurde — wenn man dies auch aus praktischen und psychologischen Gründen bei den Regierungsund Kommandostellen noch nicht zuzugeben bereit ist und so tut, als hätte sich in diesem Bereich lediglich ein technisch-organisatorischer Wechsel vollzogen.

IM VORZIMMER DES BÜRGERMEISTERS von Corte herrscht am Nachmittag wohltuendes Dämmerlicht. Wenn sich das Auge an das Halbdunkel gewöhnt hat, nimmt es auf dem Kaminsims eine marmorne Totenmaske Bonapartes wahr. An der Gegenwand erblickt es die unvermeidliche Büste der in Ehren ergrauten und verstaubten Marianne, über der sich ein buntes Serienbild des Staatspräsidenten de Gaulle erhebt. Der Bürgermeister, der nebenamtlich als Rechtsanwalt in Marseille wirkt, ist die Inkarnation der jovialen Gastfreundschaft der Insel. „Wir sind sehr froh und stolz, daß man die Ausbildungseinheiten der Legion nach Korsika verlegte“, sagt er. Ich denke an einige Zwischenfälle und kann eine gewisse Skepsis nicht unterdrük-ken. Der Bürgermeister blickt eine Weile sinnend vor sich hin, ehe er fortfährt: „Die Reibereien wurden von einigen wenigen Offizieren verursacht, die die afrikanischen Gewohnheiten noch nicht abgelegt hatten, und die Befehls- und Herrschaftsansprüche, die sie in Algerien erhoben, auch auf I Korsika übertragen zu können glaub-ten.

INZWISCHEN SIND DIE ABENDSCHATTEN auf Corte herabgesunken und haben Leben in seine Straßen und Gäßchen gebracht. Neonlicht flammt in den Schaufenstern auf, Musikautomaten lassen in den zahlreichen Kaffeehäusern, die fast alle zur Gattung des bescheidenen Bistros gehören, ihre blechernen Rhythmen ertönen — und nun sind beide Seiten des Cours Paoli von flanierenden Mädchen in Shorts und Blue jeans, von spielenden Kindern und Legionären dicht bevölkert. Die Soldaten sind in Scharen von der Zitadelle, wo sich eine Nachrichteneinheit befindet, heruntergekommen oder sind aus dem Tal emporgestiegen, wo motorisierte Truppen in der von Felsen und Gärten malerisch umgebenen Kaserne untergebracht sind. Ein Teil schließlich, die Kadertruppen, haben einen weiteren Weg zurückgelegt: Sie liegen in Zeltlagern in einer' steinigen Landschaft zwischen den Bergen, wo die am Tag brütende Sonne jener der Sahara gleicht und wo die Nächte Grabeskälte verbreiten wie im Morgenland.

Die Legionäre gehen in kleinen Gruppen zu zweit und zu dritt gemächlich durch die Straßen, viele sitzen vor und in den Bistros bei Bier oder Absinth, und wer Lust nach Tanz und weiblicher Gesellschaft hat, begibt sich in ein etwas abseits vom Zentrum, jenseits der Avenue Charles de Gaulle, gelegenes Dancing. Die Regel aber ist, unter Männern zu verbleiben und sich gemessen und würdig Vu benehmen. Die vorherrschende Sprache ist Deutsch.

Ich habe an mehreren Abenden mit zahlreichen Legionären gesprochen. Die meisten haben wenig Sinn für die „glorreiche Vergangenheit“ der Legion. Die legendären Heldentaten früherer Jahrzehnte lassen sie kalt. Fast alle sagen: „Seitdem wir in Korsika sind, haben wir die Nase voll.“ Sie drücken das auf französisch aus — da klingt es drastischer. Der eingestandene Hauptgrund ist die nüchterne Tatsache, daß sich nach dem Abzug von Sidi Bei Abbes die Löhnung durch den Fortfall der Gefahrenprämie für die meisten um die Hälfte, für manche sogar um zwei Drittel verringerte.

„Lebensmittel und Bier sind aber in Korsika teurer als in Afrika. Was haben wir schon von der Landschaft und den netten Menschen, wenn wir unser Essen nicht verbessern und unsere Freizeit nicht nach eigenem Geschmack gestalten können?“ stellt ein Österreicher bitter fest, dem ich von der Heimat erzählen muß.

„Wenn ich könnte, wie ich wollte“, sagt plötzlich in einer Tischrunde von sechs Legionären ein behäbiger Bayer, „dann würde ich lieber heute als morgen nach Afrika zurückkehren.“ Die anderen stimmen lebhaft zu.

Während meines Aufenthalts in Corte habe ich noch einen Mann kennengelernt, der dem stillen Leben den Vorzug gab. Das war ein langjähriger Koch der Legion, der nun an die eineinhalb Jahrzehnte eine „ruhige Kugel“ geschoben hat. Niemand kennt seinen richtigen Namen. Der Leitspruch der Legion, „Legio patria nostra4' ist für ihn kein leeres Wort, und er macht kein Geheimnis daraus, daß er am liebsten seine Tage bei der Truppe in Corte beenden würde. Als geschworener Einzelgänger bummelt er durch die Gassen des Städtchens, schweigsam, verschlossen und in sich gekehrt. Und wenn ihm ein Bekannter begegnet, huscht sekundenlang ein Lächeln über sein melancholisches Gesicht.

DER VIERUNDZWANZIGJÄHRIGE HAMBURGER Hein Wolters war mein interessantester Gewährsmann über die Legion. In Sidi-BelAbbes lernte er den grausamen Algerienkrieg kennen, der bei ihm unauslöschliche Erinnerungen hinterlassen hat. „Ich habe mich als Soldat verpflichtet, zu kämpfen und Gefahren zu bestehen. Hier aber spiele ich die Rolle eines ungelernten Bauarbeiters. Das ist bitter und zermürbend. Können Sie es begreifen, daß ich mich in den Nächten nach dem Heulen der Schakale sehne?“ — „Der Algerienkrieg ist aber nun einmal zu Ende, Wolters. Und die fortschreitende Entkolonialisierung wird folgerichtig auch zur Auflösung der Legion führen.“ — „Das wird niemals sein. Denn wo bekäme der französische Staat billigere Arbeitskräfte als unter denen, die sich noch heute täglich in Straßburg und Paris bei der Legion melden?“ Er hofft, daß die Kadertruppen nach Übersee verlegt werden — nach der Sahara, Mers-EI-Kebir oder zu den Basen von Djibouti und Diego-Suarez: „Es laufen Parolen um, aber niemand kann etwas genaues sagen. Und es scheint im Armeeministerium trotz der vielen schon in der Presse veröffentlichten Pläne über die Verteilung der Legionseinheiten nichts Konkretes beschlossen zu sein. Man zögert und wartet, da man eine Tradition, die 130 Jahre zählt, nicht mit einem Federstrich zu beenden wagt.“

DIESE UNENTSCHLOSSENHEIT macht die Legionäre nervös und läßt manche von ihnen ein zweites Mal den Kopf verlieren. Trotz des Risikos der auf Desertion stehenden schweren Strafen fliehen sie in den Maquis oder lassen sich von skrupellosen Vorgesetzten zu polirischen Abenteuern, Mord- und Terrorakten verleiten, die zuweilen vor dem Hinrichtungspeloton enden. Ich erzähle Hein Wolters vom Pariser Prozeß des Legionärs Dovecar, der - als er seinem Leutnant folgte — nicht das Gefühl hatte, zu desertieren. Nach seiner Auffassung von der Pflicht wäre es ein Verbrechen, nicht zu gehorchen. Er hat den Mordbefehl ohne Diskussion durchgeführt, weil der direkte Vorgesetzte — in diesem Fall ein OAS-Führer — der „liebe Gott“ sei, dem man blinden Gehorsam, wie ein treuer Hund, schulde. „Ist es wahr“, frage ich Wolters,

„daß die Hinrichtung von Dovecar so etwas wie eine Dreyfus-Affäre der Legion geschaffen hat?“ Wolters nickt: „Es ist wahr. Viele alte Legionäre waren empört. 3500 von ihnen schmückten am Hinrichtungstag das Totenehrenmal auf dem Place Georges Clemenceau mit Blumen. Sehen Sie, es gibt kaum persönliche Kameradschaft unter den Legionären, dafür aber ungewöhnliche Solidarität mit jedem einzelnen aus der Gemeinschaft der Legion. Man hält verbissen zusammen gegen die Außenwelt. Was freilich die unmittelbaren Vorgesetzten angeht, so hat sich das beim Legionärnachwuchs — das heißt bei denen, die ein Jahr und weniger dabei sind — stark gewandelt. Sie finden, daß es meistens die. Offiziere sind, die sich .vorbeibenehmen' und empören sich darüber.“

In der Stunde vor dem Zapfenstreich gibt mir Wolters einen umfassenden Überblick über das Legionärsschicksal von heute. Das Bild ist nüchtern und frei von jeder Romantik. Seit dem Abzug von Afrika ist die Legion zu einer Truppe geworden, die sich von den regulären Armee-Einheiten wenig unterscheidet. Der Tourismus in Korsika hat die traditionelle Mauer der Legion Etrangere gegen die bürgerliche Außenwelt abgebrochen. Man hat täglich Luxuswagen, schöne Mädchen und buntes Leben vor Augen, und der Besuch von Verwandten und Freunden aus der Heimat ist kein Problem mehr. Das verführt freilich zur Begehrlichkeit, weckt das Verlangen nach einem zivilen Dasein und facht neues Heimweh an. Zum Schluß frage ich noch, ob er wirklich glaube, daß die Legion das Zeitalter der Kolonialkriege überdauern werde. „Man sagt bei uns, daß Korsika für die Legion das gleiche sei, was St. Helena für Napoleon gewesen ist. Die Jungen werden ihr keine Träne nachweinen. Sie haben alle die Nase voll...“ Das ist sein letztes Wort.

ALS ICH AUS DER VORSTADT, wo ich meinen jungen Freund verlassen habe, zurückkehre, sehe ich seitlich in der dunklen Chaussee einen Volkswagenbus mit dem Kennzeichen von Stuttgart stehen. „Was macht Stuttgart in Korsika?“ frage ich den Mann am Steuer. Er ist gar nicht erstaunt, auf deutsch angesprochen zu werden und weist auf einen neben dem Wagen stehenden Legionär hin, der gerade Abschied nimmt. „Wir besuchen meinen Schwager“, sagt er, als sei es das Natürlichste der Welt, eine ganze Reisegesellschaft für den Besuch eine Legionärs, der noch vor wenigen Wochen im afrikanischen Busch für Frankreich gekämpft hat, zu mobilisieren.

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