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Kreuz in der Dorfruine

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Kaum ein paar Gendarmen und Beamte der Bezirkshauptmannschaft Kladno wußten bis zum 10. Juni 1942 etwas von der Existenz des kleinen böhmischen Dorfes Lidice, das in ihrem Sprengel lag, geschweige denn die Welt. Erst seit diesem 10. Juni 1942 tönte der Name des Dorfes durch die ganze Welt. Seltsame Tragik: die Existenz dieses Dorfes wurde bekannt, als es vom Erdboden verschwunden war.

Dieser Junitag verlief wie hunderte und tausende Tage im Dorf verlaufen waren, ohne ein Ereignis, das die Welt erschütterte. Und erst die Nacht, die diesen Tage beendete, beendete auch die Anonymität dieses kleinen Dorfes.

• In dieser Nacht umstellten plötzlich einige hundert SS-Leute und Gestapobeamte das Dorf, drangen dann in die Häuser ein, rissen die Bewohner, welche schon schliefen, aus den Betten, trieben die Frauen und Kinder zu Lastkraftwagen, die außerhalb des Dorfes warteten, und kaum, daß sie aufgestiegen waren — das KZ Ravensbrück nahm die Frauen auf, die Kinder wurden zu deutschen Pflegeeltern gesteckt —, wurden die Männer an das andere Ende des Dorfes gejagt, dort, wo der Friedhof liegt. Keine Untersuchung wurde hier bei der Friedhofsmauer mit den Zusammengetriebenen angestellt, auch kein Urteil verkündet, nicht einmal ein Verhör vorgenommen, unter Kolbenstößen und Flüchen stellten die SS-Leute eine Reihe von Männern an die Wand, ein kurzes Kommando — eine Salve. Die nächsten mußten sich an die Wand stellen, wieder Schüsse, und dieses schauerliche Schauspiel wiederholte sich, bis keiner mehr von den Männern Lidices am Leben war. -

Als die Sonne über dem Dorf aufging, hatte es keine Einwohner mehr. SS-Leute gingen von Haus zu Haus, steckten Dynamitladungen in die Mauern, ein Warnungspfiff, dann zuckten Stichflammen gegen den Himmel, die Mauern hoben sich und fielen in sich zusammen. Lidice war gewesen. In schauerlicher Symbolik ließen die Schergen einen Pflug durch den Ort fahren und senkten Salz in die Erde: zum Zeichen, daß nie wieder Leben an diesem Ort blühen sollte. . Lidice hat im Verlauf des Krieges viele Schwestern erhalten, in Polen, in Serbien, in Bosnien, in der Ukraine. Doch — all das namenlose Leid dieser Dörfer ist namenlos geblieben. Nur das Drama von Lidice wurde der Welt bekannt, und dies mit Recht, denn es ist ein Drama besonderer Art. Während in den anderen Dörfern die Männer starben als Opfer eines Freiheitskampfes, den sie selbst gekämpft hatten, wurden die Männer von Lidice hingeopfert, ohne daß sie wußten weshalb.

Sie hatten in einem Dorf gelebt, das weit vom Krieg entfernt lag, in einem Land, das Zumindestens offiziell nicht besetzt war und in dem nicht die Kriegsartikel galten. Sie hatten keinen bewaffneten Widerstand getrieben, keine besondere Sabotage geübt. Die Männer von Lidice starben, ohne einen Sinn in ihrem Tod zu sehen. Niemand hatte ihnen gesagt, daß der schwache Verdacht, die Männer, welche das Attentat auf Reinhold Heydrich ausführten, hätten in ihrem Doff eine Zeit Unterschlupf gefunden, die Ursache ihres Todes sei. Das ist die besondere Tragik von Lidice, dessen Zerstörung blutige Barbarei war.

Seither sind fünf Jahre vergangen. Aber noch immer wächst kein Leben aus den Ruinen des zerstörten Lidice. Nur ein Kreuz, ein riesiges Kreuz erhebt sich an dem Ort der Verwüstung.

Die Bötschaft des Kreuzes ist die Botschaft des Friedens und der Versöhnung. Aber die Welt ist voll von Haß und Unversöhnlichkeit und voll unheilvollem Gerede von der Kollektivschuld der einen und auch der anderen. Das Kreuz von Lidice ist nicht nur ein Denkmal der Erinnerung an die Leiden der Ermordeten, sondern auch ein Mahnmal an die

Überlebenden des Krieges: daß sie der Welt den Frieden geben, damit „die letzten Greuel der Verwüstung“ uns erspart bleiben.

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