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Land der steinernen Bibeln

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WENN WIR AUF DEN SPUREN der Vergangenheit, sei es bei vorgeschichtlichen Funden oder in alten Sagen oder Legenden, irgendwann plötzlich an die Kelten erinnert werden, dann überkommt uns einen Augenblick lang ein Gefühl der Milde. Keltentum — das ist uns Inbegriff verklärter Frühzeit. Aber das Keltentum ist nicht nur Nachhall und Erinnerung. In den abgelegenen Randbezirken Europas hat es noch heute Heimstatt. Auf Irland, in Wales und in Schottland. Auf dem Festland hat es aber noch in Frankreichs „pays sauvage“, in der Bretagne, eine Heimat. Von ihr soll hier die Rede sein. *

ARMOR UND ARGOAT! In diese beiden Worte läßt sich der Charakter der bretonischen Landschaft einfangen: Meerland und Waldland. Der harte Kampf mit den Naturgewalten im ersteren und die mystische Stille im letzteren, das sind auch die Pole] zwischen denen sich Leben und Phantasie der Bretonen abspielen.

Armor! Als mächtige Landzunge ragt die Bretagne in den Atlantik hinaus. Wenn man auf den Felsen von St. Mathieu oder auf der Pointe du Raz steht und auf die gischtumspülten Felsschründe hinabblickt, so vermeint man das ewige Ringen zwischen den ozeanischen Wogen und dem Festland noch ganz unmittelbar zu erleben. Ja, die Inselkette vor der Pointe du Raz gibt einem das Gefühl ein, das Meer habe dem Land im Laufe der Jahrtausende wirklich Boden abgetrotzt. Dem Festland vorgelagert ist noch die Ile d'Ouessant. Ihre rötlichen Felswände sind für den Ueberseereisen-den oft das letzte Stück Europas, und der Phare von Creac'h, der lichtstärkste Leuchtturm der Welt, bedeutet für manchen den ersten Gruß der Alten Welt.

Felsen oder Steingruppen bestimmen auch das Bild der bretonischen Küste. Der Gast freut sich, in ihnen Schutz gegen die atlantischen Winde zu finden, und er genießt jenes Wechselspiel zwischen Ebbe und Flut, das im Meer täglich eine ganze Welt von steinernen Inseln erstehen und'wieder versinken läßt.j Doch eben diese “SMninseln und Riffe sind “vö'fl“ den“ Einheimischen gefürchtet. Die wortkargen Fischer von Camaret oder Aberwrac'h haben gleichsam einen sechsten Sinn entwickelt, um ihre Boote immer wohlbehalten vom Thunfischfang oder von den Hummer- und Langustenplätzen heimzubringen. Der Tod hat dennoch manchen behalten. Der Tod, der die Bretonen mehr beschäftigt als andere Völker.

AUCH SAGEN UND LEGENDEN berichten von der Gewalt des Meeres. So erzählt man, daß sich die Bewohner der fluchbeladenen Insel Ile de Sein die Gefahren des klippenreichen Meeres zuflutze machten. Sie befestigten nachts brennende Fackeln an den Hörnern der Kühe. Die im Nebel verirrten Fischer glaubten, das schwankende Licht von Schiffen zu erkennen und steuerten darauf zu, bis ihre Boote an den Klippen zerschellten und die Fracht zur Beute der Strandräuber wurde. Auch die Sage vom Untergang der Stadt Ys berichtet über die Gewalt des Meeres. Als die dämonische Königstochter Dahut eine Schleusenkammer heimlich öffnete, wurde Ys in wenigen Minuten überspült. Die Furcht vor dem Tode bestimmte die christlichen Seeleute wiederum zu seltsamen Gelübden. In Le Faouet steht eine Kapelle nach drei Seiten hin über tiefen Felsabgründen. Viele Bretonen haben schon in höchster Seenot gelobt, im Falle ihrer Errettung diese Kapelle zu umklettern. In seltsamem Gegensatz zur wilden Küste aber steht die versöhnliche Milde des Binnenfändes. Schon die kleinen Fischerorte in geschützten Buchten, wie Concarneau, Audierne, Portsall, Le Faou oder Etel, haben etwas eigentümlich Spielzeughaftes, Behütetes. Auch ist das Klima im Lande milde. Wer nur wenige Kilometer landeinwärts auf den fjordähnlichen „Abers“ die Segelboote dahinziehen sieht, könnte meinen, er befände sich auf dem Berliner Wannsee. Oder wer bei Chateaulin dem Aulnetal folgt, vermeint am Ufer der Mosel entlangzufahren. Von der Nähe des Meeres spürt er jedenfalls nichts.

Die klimatische Geborgenheit der Bretagne ist ein Werk des Golfstromes. Er wirkt das Wunder, daß auf dieser Halbinsel nördliche und südländische Vegetation in unmittelbarer Nachbarschaft zu finden sind. Auf dem Höhenzug der Monts d'Arree glauben wir uns in die. Lüneburger Heide versetzt; denn dort bestimmen Ginster, Wacholder und Heide das Bild. Vom südlichen La Baule aber bis hinauf zum Kanal, zu den rötlichen Granitfelsen von Ploumanac'h, wachsen an der Küste neben Kiefern und Buchen auch Palmen und Araukarien, neben Eichen und Kastanien auch Pinien und Zedern. Und der bretonische Bauer baut auf seinen Feldern, die zum Schutz gegen die atlantischen Winde von hohen Erdwällen umsäumt sind, neben dem Weizen und dem Roggen auch die Zwiebel und die Artischocke an. Die feuchte, milde Luft wiederum macht die Bretagne zu einem Paradies der Erdbeere.

ARGOAT ABER, DAS WALDLAND, ist heute mehr zum Traumland der Bretonen geworden. Einst waren viele Gebiete des Binnenlandes mit dichten Urwäldern bewachsen. Die Halbinsel Quiberon, deren Waldungen einst so dicht gewesen sein sollen, daß man Tag und Nacht nicht habe unterscheiden können, ist heute eine Steinwüste. Und auf den Höhen des Menez-Hom bläst jetzt ungehindert der Wind von der Bucht von Douarnenez herauf über die kahle Erde. Nur im Binnenland gibt es noch einige Waldgebiete wie das Huelgoat mit seinen romantischen Quell- und Felspartien oder den Foret de Paimpont.

Für die meisten Bretonen aber ist Argoat, das Waldland, nur noch eine Landschaft der heimlichen Sehnsüchte und Träume, was bei einem so phantasiebegabt,en Volk ebensoviel bedeutet wie greifbare Wirklichkeit. In ihren Legenden kehren die Bretonen immer wieder heim in die Geborgenheit ihrer feenreichen, mit faunischen Geistern bevölkerten Wälder, so wie der Zauberer Merlin nach seinen helfenden Taten immer wieder zu seiner Geliebten Viviane im legendären Wald von Broceliande zurückkehrte, dem heutigen Wald von Paimpont. Und in diesen Wäldern siedeln die Bretonen alle Geschöpfe ihrer Sagenwelt an, auch wenn, wie im Falle der Artusrunde, die historische Wahrscheinlichkeit dagegen spricht.

SCHON IN URZEITEN war dieaföetagnif:Bin Hort starker Glaubenskräfte. Nirgends auf dem Festland begegnen wir so erstaunlichen Zeugnissen vorgeschichtlicher Kulte. In allen Teilen des Landes stoßen wir unvermittelt auf die fünf bis zwölf Meter hohen, keilförmig emporragenden „Menhirs“. Bei Locmariaquer liegt sogar ein 20 Meter langer Menhir zerborsten auf dem Boden. Welch unvorstellbare Kräfte muß es gekostet haben, ohne technische Hilfsmittel das 3 50-Tonnen-Gewicht dieses Steines zu befördern, wenn vergleichsweise der Transport und die Errichtung des Obelisken auf dem Petersplatz in Rom unter Papst Sixtus-Quintus während eines ganzen Jahres 800 Arbeiter und 70 Pferde in Atem hielten. Rätsel geben uns auch die „Dolmen“ auf, jene Steinkammern, die von einem großen Flachstein bedeckt sind. Waren es Kultstätten, in welchen Tier- oder gar Menschenopfer dargebracht wurden? Waren es Grabmale oder waren es Einsiedeleien meditierender Druidenmönche?

EIGENTÜMLICH FRIEDLICH vollzog sich der Uebergang vom Druidenkult zum Christentum. Rein äußerlich ist das erkennbar in der Uebernahme von Bräuchen und Kultstätten. Die Menhirs sind heute oft mit Kruzifixen oder Heiligenstatuen versehen. Und der Quellmythos verwandelte sich in einen christlichen Brauch. Ueber den großen, steinernen Wäsche-nbeckren teetöwfedfer Dörfer entdecke wir heute ■fcreinei-KapeiHen roder steinerne Marienschreine. Aber es bleibt im bretonischen Christentum auch die führende Rolle der Priester erhalten, die einst das Druidentum kennzeichnete. Die Legende vom König von Ys berichtet, welchen Gehorsam der König Gradion seinen Bischöfen zollte. Aber auch heute noch sind in der Bretagne die Priester oft weit mehr als Seelsorger.

Die Frömmigkeit der Bretonen gipfelt in einer ungewöhnlich starken Beschäftigung mit dem Tode. Das hat seine guten Gründe. Schon die vorchristlichen Legenden berichten von gütigen und strafenden Verwandlungen der Menschen in Tiere oder umgekehrt und entwickelten in den Bretonen ein eigentümliches Wissen von den Fährnissen der Seele im Wechsel von einer zur anderen Welt. Der Tod — das war nun d i e Verwandlung, die auch nach der Bekehrung zum Christentum volle Gültigkeit behielt. Und der Kampf der Fischer und Seeleute mit den Naturgewalten hielt den Gedanken an die Nähe des Todes besonders wach. Das Gefühl ständiger Nähe des Todes inspirierte die Bretonen aber auch zu großartigen künstlerischen Schöpfungen. In vielen Gemeinden erhebt sich neben der Kirche ein Beinhaus zu Trost und Gedenken an die Toten. Vor allem aber rückte man in den einzigartigen Steinmälern der „Calvaires“ den Tod Christi auf Golgatha ganz nahe an das Bewußtsein der Gläubigen. Diese Calvaires geben nicht nur die Kreuzigung!i'iwiederjr) sieusgeben gleichsam als ■ ,steinerne Bibeln“- Kunde- .vom gesamte)'biblischen Geschehen und von der Passion. Einen ungewöhnlichen, bis zu 150 Figuren zählenden Reichtum weisen die Calvaires von Guimiliau, Plougastel-Daoulas und Pleyben auf. Andere erwecken unsere Bewunderung durch ihre künstlerische Phantasie. Wie ein naturhaftes Rankenwerk gruppieren sich zum Beispiel die biblischen Gestalten am Calvaire von Quilinen empor.

Den Künstlern stand nichts als der harte Granit zu Gebote. Das gibt den Figuren etwas ungemein Einfaches. Elementares. Die ozeanischen Stürme taten das Ihre, um manche dieser Steine zu verwittern. Wer unmittelbar an der Anlantikküste bei Notre-Dame de Tronoen vor dem ältesten dieser Calvaires steht, der vermeint ein frühromanisches Werk vor sich zu haben.

URSPRACHE GLAUBT MAN auch zu vernehmen, wenn die Bretonen daheim in patriarchalischer Ordnung am Familientisch sitzen, wenn sie in den Cafe-s ihren Cidre oder Calvados trinken oder wenn sie in einer Dorfgasse Kegel schieben. E% ist eine spröde, lapidare Sprache, bei der die Fülle kurzsilbiger Worte auffällt. Ich glaube, daß es das keltische Bretonisch besonders auf Sparsamkeit der Begriffe absieht. Das entspräche auch dem einfachen Denken der Bretonen.

Die geistige Unkompliziertheit läßt die Bretonen übrigens Spannungen überwinden oder gar verleugnen, die sich anderswo oft sehr einschneidend auf heimatliche Tradition ausgewirkt haben. Zehntausende von Bretonen fuhren als Seeleute in fremde Kontinente oder blieben sogar weit von der Heimat entfernt seßhaft. Aber diese Berührung mit der großen Welt führte nicht zur Untreue gegenüber ihrer kleinen Welt und zu jener hektischen An-gleichung mancher anderer Volkstumstraditionen an die film- und radiokonformierte abendländische Durchschnittsmentalität.

Nur ein Vorgang schreitet bedrohlich fort. Das Bretonische befindet sich auf dem Rückzug vor der französischen Sprache. In den Städten wird es überhaupt nicht mehr gelehrt, auf dem Lande oft nur noch an einem Schultag der Woche. Die Freizügigkeit der Gewerbetreibenden und der anwachsende Fremdenverkehr werden ferner dazu beitragen, daß die jungen Bretonen sich lieber gleich ganz auf die Weltsprache des Französischen umstellen. Und das bedeutete: ein weiterer Ton im Nachklang des Keltentums würde für immer verstummen.

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