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Jessenins Heimat

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Vier Dörfer ziehen sich eines nach dem anderen gleichförmig an der Straße entlang. Gärten gibt es nicht. Auch kein Wald ist in der Nähe. Verkommene kleine Vorgärten. Hier und da grellfarbige Fensterverkleidungen. Ein gewichtiges, hohedts-volles Schwein reibt sich mitten auf der Straße an einer Wasserpumpe. Die in gemächlicher Karawane ein-hermarschierenden länse drehen sich alle gleichzeitig in der Richtung des vorübersausenden Schattens eines Radfahrers um und schicken ihm gemeinsam einen kriegerischen Ruf nach. Emsige Hühner kratzen auf der Straße und in den Gärten auf der Suche nach Futter.

Einem schäbigen Hühnerhaus gleicht die Verkaufsbude des Dorfes Kon-stantinowo. Heringe, alle erdenklichen Sorten; Bonbons, zusammengeklebte kleine Kissen, wie man sie seit fünfzehn Jahren nirgends mehr ißt. Dunkle Brotlaibe, wie Pflastersteine, doppelt so schwer wie in der Stadt, denen man nicht mit dem Messer, sondern mit der Axt zu Leibe rücken muß. Die Hütte der Jessenins hat ärmliche Trennwände, die nicht bis zur Decke reichen — winzige Zimmer, Käfige, von denen man keinen als Zimmer bezeichnen kann. Im Gemüsegarten steht ein verwitterter kleiner Schuppen. Auch ein kleines Dampfbad war früher da. Hierher, in diese Dunkelheit, stahl sich Sergej und schrieb seine ersten Verse. Jenseits des Gatters liegt ein gewöhnliches kleines Feld.

Ich gehe durch dieses Dorf, wie es deren viele gibt, in denen heute noch die Gedanken aller Einwohner auf

Broterwerb, Geldverdienst und Ehrgeiz vor den Nachbarn gerichtet sind, und bin erregt: ein himmlisches Feuer versengte einst diese Gegend, und noch heute spüre ich es an diesem Ort auf meinen Wangen brennen. Ich trete auf den Hang an der Oka. blicke in die Weite und staune: kann man denn von diesem dunklen, fernen Streifen dürftigen Waldes so rätselvoll sagen: „Im Forst hört man den Klang der schluchzenden Auerhähne ...“ und von der in ruhigen Windungen durch die Wiese fließenden Oka: „Sonnengarben im tiefen Wasser?“

Welch eine geballte Begabung warf der Schöpfer hierher, in diese Hütte, in dieses Herz eines rauflustigen Bauernburschen, damit er voll Ergriffenheit so reichen Stoff an Schönheit fand — am Ofen, auf der Tenne, hinter dem Dorf — einer Schönheit, die Tausende von Jahren getreten und nicht bemerkt wird!

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