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„Literatur“ der Primitiven

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Der Kongreß, den das Internationale Kuratorium für das Jugendbuch in der vorigen Woche in Wien veranstaltet hat, stand offiziell unter dem Motto „Bild und Buch“ und war den Problemen gewidmet, die sich beim Illustrieren von Kinder- und Jugendbüchern ergeben. Das Thema der meisten Gespräche und der interessantesten Referate war allerdings wesentlich enger umgrenzt. Man sprach vom Comic-book.

Wenn man die Verbreitungszahlen hört, glaubt man im ersten Augenblick an einen Irrtum. Es ist jedoch bittere Wahrheit, daß im Jahre 1954 allein in Oesterreich 20 Millionen Comic-Heftchen verkauft wurden. In der gleichen Zeit wurden in Deutschland 240 Millionen, in Amerika sogar 1080 Millionen Comics an den (jungen) Mann gebracht. Die meisten, die im deutschen Sprachraum kursieren, werden aus dem Amerikanischen übersetzt und von den Umschlagplätzen Hamburg und Hannover aus waggonweise in die verschiedenen Länder und Städte verschickt. In Oesterreich sind gegenwärtig 30 Fortsetzungsserien mit durchschnittlich 15 Einzelnummern erhältlich, die Serie „Tarzan“ hat es jedoch auf 67 Fortsetzungen, der „Schwarze Pirat“ auf eine Verbreitungszahl von insgesamt 9 (Sie lesen richtig: neun) Millionen Stück gebracht.

Diese Massenverbreitung rechtfertigt es, wenn sich heute nicht nur Psychologen und Pädagogen, sondern auch die Gesetzgeber mit dem Comic ernstlich beschäftigen. Die jungen Menschen verschlingen diese Lektüre, die, weil sie hauptsächlich aus Bildern besteht, eigentlich keine „Lektüre“ im Sinn dieses Wortes ist, dutzendweise. Da sie dies ausgerechnet in einem Alter tun, in dem da&Kind allen Eindrücken besonders aufgeschlossen ist, haben die Comics gewaltigen Einfluß auf die Entwicklung einer ganzen Geheration.

Welchen Einfluß? Einen schlechten. Darüber sind die meisten Fachleute völlig einig. Nur darüber, welchen Schaden die Comics in der Kinderseele eigentlich anrichten, sind die Meinungen geteilt. Da gibt es eine Gruppe von Psychologen, die zwischen „harmlosen“ und „gefährlichen“ Comics unterscheiden. Gefährlich sind ihrer Meinung die „Horror-Comics“, in denen schlimmste Brutalitäten und Perversionen minutiös dargestellt werden und sonstige Extreme. Harmlos ist eine ganze Anzahl von Serien, in denen keine Brutalitäten vorkommen, vom „Eulenspiegel“ bis zum „Pinocchio“.

Die anderen sagen: Alle Comics sind gefährlich: Sie beeinflussen nicht nur dadurch, was dargestellt wird. Durch ihre Bildersprache und den eigentümlichen Bann, den sie auf die Kinder ausüben, machen sie es ganzen Schülergenerationen unmöglich, ihr Begriffsvermögen und die Fähigkeit, Gelesenes zu verarbeiten, richtig auszubilden. Ganze Generationen bleiben auf einer Entwicklungsstufe stecken, die man seit Jahrhunderten überwunden glaubte, ganz abgesehen davon, daß ihr primitiver Stil den Geschmack verdirbt.

Wenn man ehrlich ist, muß man sich allerdings fragen, ob die Comics nur Ursache, oder ob sie nicht auch ein Symptom sind, das unsere Aufmerksamkeit auf geheime Sehnsüchte der jungen Menschen und Mängel in unserem Erziehungssystem lenkt. Regierungsdirektor Doktor Heinrich S p i 11 a aus Hannover hielt vor dem Kongreß einen Vortrag, der das Problem des Comics von einer bisher kaum beachteten Seite beleuchtete.

Im Psychotherapeutischen Institut in Hannover wurde, in Europa wahrscheinlich zum erstenmal, die Bildersprache der Comics gedeutet. Bilder wirken (besonders bei Kindern) ohne Umweg über den Verstand direkt auf jene unbekannten Tiefen der Seele ein, die die Psychologen etwas nebulos die „Tiefenschichten“ nennen. Die Hersteller der Comics treffen mit einer Sicherheit, die man, so glauben wir, wenigstens in vielen Fällen mit Infantilität der Zeichner erklären kann, jene Symbole, die auf das Kind besonders stark wirken.

Viele Comics karikieren die Welt der Erwachsenen und stellen die großen Leute abwertend und verzerrt, räumlich sogar kleiner als die Kinderhelden der Geschichten, dar. Besonders gern werden Erwachsene in peinlichen Situationen gezeigt.

Sehr oft ist es dann der Kleine, der die Situation und den Erwachsenen rettet. Einmal verfügt er über einen magischen Trank, der ihm Zauberkräfte verleiht, dann besitzt er wieder einen Zauberknopf, durch den er im Handumdrehen über jeden Erwachsenen triumphieren kann. Die Zeichner sprechen mit diesen Bildern besonders die Kinder in der sogenannten zweiten Trotzphase an, in der sie aus einem Unterlegen-heitsgefühl heraus über die Erwachsenen triumphieren und sich in der Welt durchsetzen wollen. Die Träume von Wundertrank und Zauberknopf sind dem Psychologen als „magische Wunscherfüllung“ bekannt.

Eine besonders große Rolle in den Comics für die etwa Zwölfjährigen spielt das Leitbild des Vaters. Er tritt in mehreren Gestalten auf: Als Held („Tarzan“, „Testpilot Speedy“ usw.), als dessen Gegenbild, als Schurke und in der Gestalt des Weisen, als weißhaariger Professor oder als Atomwissenschafter. Auch diese Comics kommen einer geheimen Sehnsucht entgegen, der Spannung zwischen Gut und Böse und der Tendenz, in allen Bereichen des Lebens den Mann am Werk zu sehen. Frauen kommen in den Comics höchstens als beschützte, niemals als Geschlechtswesen vor; der Jugendliche kann in seiner „homoerotischen Periode“ mit einem sinnlichkeitserregenden Bild der Frau kaum etwas anfangen. Dafür ist das Prinzip der niederen Männlichkeit durch zahlreiche Affen in den Comics reichlich vertreten.

Wer die Psychoanalyse ein wenig kennt, wird sich nicht darüber wundern, daß die Psychologen in der Bildersprache der Comics allenthalben sexuelle und erotische Symbole aufspüren. Leider scheinen sie nur zu recht zu haben. Es wäre unklug, die Augen davor zu verschließen.

Wir können hier nur einige Hinweise auf besonders wichtige Stellen im Vortrag des deutschen Referenten angeben, der es verdienen würde, allen, die sich mit dem Comic-Problem zu befassen haben, zugänglich gemacht zu werden. Daß zum Beispiel die Grotte in den Comics nicht nur wegen der Faszinationskraft des Unheimlichen, sondern, gleich schlimm, ob bewußt oder unbewußt, auch als sexuelles Symbol angewendet wird, geht oft schon aus der graphischen Gestalt hervor. Der passiven entspricht die aktive Sexualität in Kampf und Schießerei, der unfehlbar immer ein Absturz folgt, sei es nun von einem Felsen, einem Pferd oder Steilufer. Die Psychologen gehen sicherlich1 nicht fehl, wenn sie in diesen Abstürzen, die oft sogar völlig unvermittelt und ohne Zusammenhang mit der Handlung vorkommen, ein Symbol für das sehen, was der sexuellen Erregung zu folgen pflegt.

Dr. Spitta sieht in den Comics in erster Linie Symbol und Ventil, gibt aber zu, daß sie durch ihre suchtgiftartige Wirkung viele Jugendliche auf einer unreifen Entwicklungsstufe fixieren und dadurch zu einer gewaltigen Gefahr für unsere Kultur werden können. In der häufigen Verwendung verschiedener Vatersymbole sieht er einen Hinweis auf das Problem der Vaterlosigkeit, vor dem nicht nur Waisenkinder, sondern die Kinder aller beruflich überlasteten und an der Erziehung ihrer Sprößlinge uninteressierten Väter stehen. Das gewaltige Interesse der männlichen Jugend für die Bildersprache der Comics führt ihn zu einer Erkenntnis, die man auch auf anderen Wegen immer wieder gewinnen kann: Die modernen Erziehungsmethoden wenden sich ausschließlich an den Kopf und1 lassen andere Bereiche des Menschlichen verkümmern; das Comic-Lesen ist die ungesunde Befriedigung eines an sich gesunden Bedürfnisses. .

Man wird der Comics ohne energische Maßnahmen der Gesetzgeber und der Exekutive kaum Herr werden, wird aber einsehen müssen, daß es nicht genügt, das Symptom zu bekämpfen. Die Comics werden leichter zu vertreiben sein als das Bedürfnis darnach.

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