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Revolution — unangesagt

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Uieber Nacht sind 15 Filme in das Programm einer einzigen Wiener Lichtspieltheaterwoche eingebrochen. Unerklärlich die Masse, unangesagt der Termin, am überraschendsten aber die Güte: gute sieben bis acht Filme sind nach Form oder Fabel als Großfilme anzusprechen. Nur die un-angesagten Revolutionen rinden statt ...

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Uieber Nacht sind 15 Filme in das Programm einer einzigen Wiener Lichtspieltheaterwoche eingebrochen. Unerklärlich die Masse, unangesagt der Termin, am überraschendsten aber die Güte: gute sieben bis acht Filme sind nach Form oder Fabel als Großfilme anzusprechen. Nur die un-angesagten Revolutionen rinden statt ...

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EIN KNABE NAMENS BROT UND WEIN (Mar-celino Pan y vino) ist der bezaubernde, aber nicht süße Held der spanischen Legende „Das Geheimnis des Marcel in o“, ein Bruder des italienischen Peppino — ja, ganz richtig: des Buben mit der Eselin Violetta — und in gewissem Sinne auch des Don Camillo; denn wie dieser redet auch Mar-celino, das Findlingskind im Kloster, mit dem Cruci-fixus und bringt ihm täglich Brot und Wein, was der Gekreuzigte huldvoll annimmt. Huld auch die Gnade des Todes für Marcelino, die ihm da oben beschert, was ihm da unten versagt blieb: eine Mutter. — Ein wunderbarer, franciseeischer Film, preisgekrönt und mitempfunden von Heid und Jud und Christ. Ein Wunderfilm, ein Filmwunder.

, EINE VERLORENE WELT ist wiederentdeckt. Nicht die „Kunst des Films“, nein: die geborene Nicht-Kunst, das Filmdokument. In unseren Tagen erklimmt es atemraubende Höhepunkte. Merkwürdig übrigens: bestimmte Nationen scheinen dafür geboren zu sein. In dieser Woche triumphieren die Italiener und präsentieren, ganz verschieden in ihrer Art, zwei Klassiker: „Der verlorene Kontinent“ und „10.0 0 0 Stunden unter dem Meer“ (im Original: Continente perduto und II sesto conti-nente!). Der erste: eine brillante Kompositions- und Stilisierungsleistung des Forschers Leonardo Bonzi und seiner Gefährten — wir folgten erst kürzlich, vor Erregung errötend, ihren Spuren auf dem südamerikanischen „Grünen Geheimnis“; diesmal flirrt und flimmert der Zauber von Land und Leuten, Göttern und Dämonen des malayischen Archipels in berückend leuchtendem Ferraniacolor. Es ist vielleicht der beste farbige Kulturfilm, der jemals gedreht wurde. — Naturbelassener ist der zweite, der Technicolorfilm Bruno Vailatis mit dem „italienischen Hass“ Raimondo Bucher! Hinter den atemraubenden Unterwasserszenen lauern weltweite .Probleme: das erbarmungswürdige Lumpenproletariat der Perlenfischer und der unerschöpfliche Nahrungsreichtum des Meeres, des „sechsten Kontinentes“.

ABSEITS DER BIBEL und „Jenseits von Eden“ füllt der Elia-Kazan-Film nach dem gleichnamigen Roman von John Steinbeck eine Lücke des Alten-Testament-Berichtes von Kain und Abel mit sehr moderner, riskanter Deutung. Adam ist ein amerikanischer Farmer im ersten Weltkrieg, ein guter Puritaner, aber ein schlechter Vater für Cal •(Kain), der nach seiner Liebe dürstet. Aron (Abel) muß in den Tod. um Kain dieses (verdiente) Plätzchen der Liebe freizumachen. Kate, Adams Frau, ist die Verlorene, die Sünderin, die ewige Eva, unheimlich hart und illusionslos gespielt von Jo Van Fleet. Kain ist James Dean, ein frappanter Doppelgänger Oskar Werners, ein fahriger, nervöser Instinktspieler, dessen früher Tod vor kurzem eine vielversprechende Laufbahn beendet hat. „Jenseits von Eden“ ist der größte, künstlerischste Film dieser Woche. (Ein leises theologisches Bedenken gegen die poetischwaghalsige Anschwärzung Gottvaters kann ich trotz beruhigender Erklärungen eines Priesters nicht unterdrücken.)

; SIE KENNEN DEN TOD NICHT IN HOLLYWOOD, ich meine: den sanften, reifen, erfüllenden Schritt ins andere, eigentliche Leben. Darum: ihr Mord-und-Brand-, ihr Tod-und-Teufel-Film. Der Kriminalfilm ist dort geboren, gehätschelt und gepäppelt worden. Nun erntet man; aus der „S a a t der Gewalt“. Ein schauerlicher Film! Ich kann verstehen, daß ihn die Gesandte des eigenen Landes vor der Biennale in Venedig kassierte. Denn diese Rohlinge in einer amerikanischen Normalschule, die da ihre Lehrer terrorisieren, gibt es nicht, sie sind eine Nachgeburt des Drehbücherwurmes. Die „Todeszelle 2 4 5 5“ dagegen gibt es. Denn die Chessman-Story gibt es in Bild und Ton, Buch und Akten. Ein Verkommener erzählt, wie er in die Todeszelle kam. Merkwürdig sagt er nicht, daß er häufig solche Filme gesehen hat wie diese zwei be-•klemmend gut gemachten, alles Gesunde und Natürlich tötende Gewalt-Säer...

IST DAS LEBEN NICHT PROBLEMATISCH GENUG — ohne Mord und Brand, Tod und Teufel? Ein schöner, ernster französischer Film „Ein ganzes Leben“ sucht es im Opfer und Berufsethos des Landarztes, ein profilierter deutscher Cavalcade-Fifm, „Hotel Adlon“, in Glanz und Gloria, Feuer und Rauch eines deutschen Halbjahrhundertschicksals. Strammer geht es zu in dem bestechend photographierten Cinemascope-Film „In geheimer Kommando sache“ und dem deutschfranzösischen Film „Die Helden sind müde“, einem sehr gekonnten, atmosphärisch dichten, menschlich packenden, aber nicht ganz stilreinen Nachkriegsfilm. Große Rollen für Yves Montand und Curd Jürgens. Ein phantastischer Gag: die Ueberblendung vom Ventilator in den feuerspuckenden Propeller.

KOKETTES INTERMEZZO: „Neapolitanisches Karussell“ ein hübscher Revuebilderbogen nach Art des unvergeßlichen Jushny-„Blauen Vogels“, mit seinen Besatzungswitzen ein italienischer „Oesterreichfilm“, in seiner Moritaten-Moral eine richtige Dreilireoper. Mehr nicht. Aber auch nicht ■weniger.

WO VIEL LICHT IST--ach, die Schatten, ach,

die Schatten I Es geht noch an, kindlich mit kindisch zu verwechseln („D ie Tochter des Kalifen“ und „Das letzte Gefecht“); aber es- geht

nicht an, als Werner Krauß in sooo einem Film wie „Sohn ohne Heimat“ zu spielen; es ist aber auch Leuten, wie Dieterle, Korngold und Melichar, im Grunde nicht erlaubt, unter dem Filmtitel „Frauen um Richard Wagner“ die Augen zu schließen und die Hand zu öffnen ...

DOCH ENDET NICHT MIT FLUCH DER SANG. Es war, meinte ein Wiener Kritiker, nehmt alles nur in allem, eine Woche des guten Films. Dankbar stütmen die Leute die Kassen, leicht erschöpft versiegt die Rezensentenfeder beim 15. Film. Der

Kritiker, der Held ist müde. „ „ .

„ Roman H e r I e

F i 1 m s c h a u (Gutachten der Katholischen Filmkommission für Oesterreich), Nr. 48, vom 26. November 1955 : II (Für alle zulässig): „10.000 Stunden unter dem Meer“ — IV (Für Erwachsene): „Die Saat der Gewalt“, „Zum Tanzen geboren“, „Sohn ohne Heimat“ — IVa (Für Erwachsene mit Vorbehalt): „Flucht aus Schanghai“, „Das letzte Gefecht“, „Ein ganzes Leben“ — IV b (Für Erwachsene mit ernstem Vorbehalt): „Die Tochter des Kalifen“ - V (Abzuraten): „Todeszelle 2455“.

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