Schreiben frisst Leben auf

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Christa Wolfs eben veröffentlichte Aufzeichnungen sind distanzlos und peinlich, meint Sylvia M. Patsch.

Im Jahr 1960 rief die Moskauer Zeitung "Iswestija" die kommunistischen Schriftsteller der Welt auf, einen Tag in jenem Jahr, nämlich den 27. September, so genau wie möglich zu beschreiben. Christa Wolf, damals 31 Jahre alt, folgte dem Aufruf. Und machte daraus eine Gewohnheit bis zum Jahr 2000. Warum diese selbst auferlegte Dokumentations-Pflicht ohne die Absicht, die Protokolle je zu veröffentlichen? Sie habe "gegen den Terror des Vergessens" und "gegen den Verlust von Dasein" angeschrieben, um "Inseln im Meer des Vergessens" zu retten. Als Schriftstellerin waren ihr diese minuziösen Tagesbeschreibungen "Beweisstücke für meine Faszination von dem erzählerischen Potential in beinahe jedem beliebigen Tag." Ihr Ehemann Gerhard Wolf habe sie dazu überredet, das gewaltige Konvolut, im Druck 650 Seiten, als Zeitzeugnis nun doch zu veröffentlichen: "Ein Tag im Jahr 1960 -2000".

Hang zur Genauigkeit

Manche Menschen leiden an Waschzwang, andere am Redezwang (Wortdiarrhö), Christa Wolf hat einen Schreibzwang: "Mein Hang zur Genauigkeit frisst mich auf [...] Gegen elf füllen wir die Pflaumenkonfitüre in Gläser, dann schreibe ich noch eine Stunde an diesem Text - leben, um es zu beschreiben! - nun ist es nach zwölf, ich werde in die Küche gehen, die Schnitzel klein schneiden, sie mit Zwiebeln und Paprika braten, Reis dazu machen, Blumenkohl." Solche Wichtigkeiten durchziehen das ziegelsteinschwere Buch zu Hunderten, wenn nicht Tausenden... Zeitzeugenschaft verlangt Offenheit, Schonungslosigkeit. Als Christa Wolf 1960 mit ihrem schreibenden Fixieren des 27. September begann, war sie bereits elf Jahre lang Mitglied der kommunistischen Partei der DDR. Nach der Wende tauchten Dokumente auf, aus denen hervorgeht, dass sie von 1959 bis 1962 "Informelle Mitarbeiterin" der Stasi war, also andere Leute bespitzelt und die Behörden informiert hat (sie selber wurde von 1969 bis 1989 auch überwacht). Man erwartet ja nicht, dass sie jeweils an dem ominösen 27. 9. "aktiv" war, aber dass in dieser Zeit kein Sterbenswort von einer Gewissenlast in die Zeilen rutscht, verwundert.

Umso detaillierter hält sie gesundheitliche Probleme fest: Hohen Blutdruck und Schlaflosigkeit, Erschöpfungszustände und Depressionen, innere Lähmung, Kopfschmerzen, Magenschmerzen "wegen der chinesischen Ente am Vortag", Schilddrüsenknoten, Krebsangst...

Alles ist Schwindel

Christa Wolf trat bis zum Ende der DDR dafür ein, "aus dem eigenen Land heraus Veränderungen" zu bewirken. 1990 verließ sie die kommunistische Partei. Davor hat sie den Schritt nicht übers Herz gebracht, denn: "Man tritt nicht aus der Partei aus, man lässt sich ausschließen." Diese "Freude" machten ihr die Bonzen nicht.

Mit den Jahren gewinnt die Ehefrau, Mutter zweier Töchter, schließlich Großmutter, vor allem die Schriftstellerin aber Einsichten, um derentwillen sich der Lese-Marathon nicht nur als Zeitverschwendung herausstellt: "Ich bin durchdrungen von dem Wissen: alles ist Schwindel. Mein Schreiben, mein Nichtschreiben." (1980) "Alles ist schrecklich. Und nichtig zugleich. Es vergeht, wenn du vergehst. Und das wird bald sein." (1990) Die Atheistin C. Wolf bekennt: "Erlösung - ein Wort, das mir immer fremd war."

Ein Markenzeichen der einstigen Kultautorin der Linken und Feministinnen ist das Lavieren bis herauf in die jüngste Vergangenheit: "Mein Standort in dieser neuen' Zeit ist zu unbestimmt, um ihn in Worte fassen zu können." (1990) Und doch empfindet sie, die "zu lange an die falschen Götter geglaubt hat", Freude, als die PDS, also die Kommunisten, in den gesamtdeutschen Bundestag einziehen. Eifrig zitiert sie hämische Zeitungsartikel gegen die Wiedervereinigung und wirft sich in Kassandra-Pose: "Die alte Not hat ein Ende. Jetzt ist eine neue." (1996) Christa Wolf weiß heute: "Wer nach oben kommt und sich dort hält, gehört zu einer negativen Auslese." Sie war lange "oben" und spricht damit über sich selbst das Urteil.

Dieses Buch einer einst hoch angesehenen Autorin erhebt keinen künstlerischen Anspruch. Ein Zeugnis soll es sein. Was bezeugt wird, ist ein privilegiertes Leben mit schönen Auslandsreisen und nicht glaubwürdigen Gewissensbissen. Tragisch humorlos, distanzlos, peinlich.

Ein Tag im Jahr 1960-2000

Von Christa Wolf

Luchterhand Verlag, München 2003

655 Seiten, geb., e 25,70

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