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Schwarze Avantgarde am Fleischmarkt

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Wien hat ein neues Avantgarde-Theater. Eine anstrengende Woche hindurch feierte es Festpremieren mit Jean G e n e t, dem Pariser Nihilisten, mit Eugene Ionesco, dem rumänischen Pariser Radi-kalisten, mit Samuel B e c k e 11, dem pariserischen Irländer und exaltierten Bußemystiker, mit Michel de Ghelderode, dem gewalttätigen, prachtvollen Theatraliker aus der Flamenschule. Es war ein skeptischer Beginn, in dem mehr Wagnis liegt als in den Stücken, der experimenteller ist als diese ganze revoltierende Gemeinde all der düsteren Schwarzseher und Endspieler zusammen —, denn die Avantgarde ist. eines, und Wien, die .Hauptstadt, die Millionenstadt, die Theaterstadt ist ein anderes Kapitel. Viele gingen enttäuscht aus dem Theater in dieser Woche, verärgert und gelangweilt — und das beileibe nicht zu Unrecht —, und doch ist die Neugründung am Fleischmarkt begrüßenswert. Denn während das wienerische Theater, dieses schöne, museale Gebilde aus Tradition und reißendem Absatz bei unseren Lieblingen von Bühne und vom Film, seine ausverkauften Häuser zählt, gibt es, existiert, ob sie nun gefällt oder nicht, eine äußerst vitale zeitgenössische Untergrunddramatik, die man zur Kenntnis nehmen sollte.

Es war ungezügelt, nebulos und visionär, was wir da sahen, keine Dramatik, nur ein Konzept aus Aktionen, keine Konflikte, nur ein reduziertes Kraftfeld zwischen konträren Polen, verstärkt durch die eindrucksvolle Magie der Sprache — Antitheater, Bühnenparoxismus, Bühnenparadoxa, szenarische Fragmente, durch die der Wahnsinn flackert und das Schreckgespenst des intellektuellen Todes, ohne Sinn und Zweck, hoffnungslos und ohne Glauben. Ein böser, aggressiver Alptraum wälzt sich da von der Bühne — abstoßend, ein Spiel des Geiferns in Genets „Die Dienstbote n“, ein Wahnsinnsakt von tödlicher Langeweile in Becketts „E n d-spiel“, szenengewaltig, visuell, elementar in Ghel-derodes „Escorial“. intelligent, grotesk und paro-distisch, ein invertiertes Kabarett der letzten abgründigen Konsequenz des Witzes in lonescos „D i e kahle Sängerin“ und „Die Nachhilfestunde“. Bemerkenswert, von beeindruckender Kraft waren die Inszenierungen, die sich Herbert W o c h i n z, der Leiter des Theaters, und der aus Paris herbeigeholte Beckett-Spieler Roger B1 i n teilten; glänzend waren die schauspielerischen Leistungen des Ensembles. Die Bühnenbilder und Kostüme schufen Wander Bertoni, Wolfgang Hutter, Josef Mikl.

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