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Staatsakt, „Fidelio“ und „Don Giovanni“

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Wer während der letzten Wochen und Monate die Vorbereitungen, Ankündigungen und programmatischen Erklärungen im Hinblick auf die Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper aufmerksam verfolgte, den konnten wohl zuweilen Zweifel und Sorgen Uberkommen, ob das während der festlichen Wochen Dargebotene auch wirklich dem entsprechen werde, was sich Wien, was sich ganz Oesterreich und die Welt von diesem Ereignis in künstlerischer Beziehung erwartet. Das Haus stand fertig da, und siehe, es ist schön geraten. Auch mit der von so vielen Imponderabilien abhängigen Akustik des neuen Raumes haben wir Glück gehabt. Sie steht der des alten Hauses kaum nach, der erste Eindruck ist der allergünstigste, man wiid sie aber, um zu einem endgültigen Urteil zu gelangen, noch von verschiedenen Plätzen aus überprüfen müssen.

Als ein gutes Vorzeichen betrachteten wir auch den würdigen Staatsakt mit vier gehaltvollen, weit ausgreifenden Ansprachen. Die „Präsentation“ des neuen Hauses und der Künstler erfolgte durch den Leiter der Bundcstheaterverwaltung, Ministerialrat Marboe, angesichts der Weltöffentlichkeit, die durch Rundfunk, Wochenschauen und Television-stationen aus 27 Ländern, durch 250 Auslandsjournalisten und 70 österreichische Kollegen vertreten

war. Ueber 38 Sender nahm die Welt an diesem Ereignis teil. Die Schwierigkeiten des Wiederaufbaues schilderte Handelsminister Dr. Iiiig, während Unterrichtsminister Dr. Drimmcl betonte, daß den Oesterreichern die Proportionen solcher überlebensgroßer Zeitlosigkcit das Maß der künstlerischen Ansprüche vorschreiben müsse. „Indem wir den Umblick in solchen weitgesteckten Horizonten wagen, werden wir jene äußerste Kraft fassen können, die ein äußerstes Ziel verlangt.“ Genau dies, so scheint uns, ist der Punkt, auf den es ankommt. Denn gerade bei so hochfestlichem Anlaß genügt es nicht, das freudig bewegte Herz sprechen zu lassen, sondern es gilt vor allem, den Kopf für ein ungetrübtes kritisches Urteil wach zu erhalten. Als letzter sprach — nachdem er den goldenen Schlüssel des Hauses aus den Händen des Ministers empfangen hatte, der neue Leiter des Instituts und gelobte den rund 600 hinter ihm sitzenden Angehörigen des Hauses — Solisten, Chor, Ballett und technisches Personal —, den Philharmonikern zu seinen Füßen und der hohen Festversammlung, daß er seine ganze Kraft der Wiener Oper weihen werde. Alle haben's vernommen ...

Eingedenk der Bitte des administrativen Leiters der Bundestheater, „der Liebe und des Respektes nicht zu entraten“, aber auch der Parole, ein äußerstes Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, unterzieht sich der Kritiker seiner Aufgabe, sachlich und in gebotener Kürze über die beiden Festvorstellungen zu berichten. Er meint, hierbei nicht kritischer verfahren zu müssen, als ein bestimmter Teil des illustren Auditoriums, unter dem sich nicht nur die Spitzen des Staates, die Vertreter des Diplomatischen Corps, der Wirtschaft und der Industrie, sondern auch die Chefs der meisten europäischen Kunstinstitute sowie zahlreiche schaffende und ausübende Künstler befanden. Wir nennen nur einige Ehrenmitglieder der Wiener Staatsoper, wie Lotte Lehmann, Bruno Waltei und Alfred Piccaver, die große Zeiten des Hauses miterlebt und mitgestaltet haben, wir nennen die Komponisten Frank Martin, Csrl Orff, Werner Egk, Rolf Liebermann, Dimitri Schostakowitsch, Theodor Berger und Gottfried von Einem, wir nennen die Tochter und die Enkelin Toscaninis. Gerty von Hofmannsthal. Elisabeth Furt-wängler, Lilli Schalk, Helene Berg, Carmen Studer-Weingartner und Helene Kicnzl.

Vor diesem anspruchsvollen Auditorium wurde hei der Galapremiere am 5. November „Fidelio“ gegeben. Der orche?trnle Teil, von den Philharmonikern ausgeführt, ließ keinen Wunsch offen und erhielt wiederholt Sonderapplaus. Dieser galt auch dem musikalischen Leiter der Aufführung, Dr. Karl Böhm Anton Dermota als Florestan, Irmgard S e e f r i c d als Marzelline, Waldemar K m e n 11 als Jaquino und Ludwig Weber als Kerkermeister Rocco waren stimmlich glänzend in Form. Paul S c h ö f f 1 e r stellte als Pizarro eine seiner eindrucksvollsten Gestalten auf die Bühne, Karl K a m a n n agierte und ang würdig den Minister. Martha M ö d 1, eine noble Erscheinung und eine hervorragende Schauspielerin, hinterließ trotz gewisser Schwierigkeiten, die ihr die exponierten Töne ihrer Partie bereiteten, den ergreifendsten Eindruck. — Untadelig sang der Chor seinen schwierigen Part. Clemens Holzmeisters Bühnenbild war weitgehend durch die regielichen Absichten Heinz T i e t j e n s bestimmt. Das kleinbürgerliche Idyll, Roccos Wohnung, war radikal weggeräumt. Von allem Anfang unidrohen uns, grau in grau, die düsteren Mauern und Türme des Staatsgefängnisses. Nach der mit starkem Beifall bedankten 3. Leonoren-

Ouvertüre — die aber trotzdem nicht an diese Stelle gehört, weil sie die mit Fallgeschwindigkeit dem Ende zustrebende Handlung hemmt — tut sich vor dem überraschten Besucher ein merkwürdiges Bild auf, das am ehesten mit der Festwiese aus den Meistersingern verglichen werden kann: Kein „Paradeplatz de Schlosses“, wie es im Textbuch heißt, sondern der zu einem konzertanten Finale aufgestellte Gesamtchor präsentiert sich in etwas merkwürdiger Kostümierung, etwa im Stil eines spanischen Biedermeiers. Mit diesem ungewöhnlichen Schlußbild korrespondierte auch die Behandlung des Chors der Gefangenen, der 'n fast strategischer Art bald in die eine, bald in die andere Ecke gejagt, bald zusammen-, bald auseinandergetrieben wird: eine Massenregie, mit der wir uns nicht befreunden konnten.

Die zweite Festaufführung, Mozarts „Don Giovanni“, wirkte geschlossener, stilistisch einheitlicher. Dieser Stil ist das glänzende Ergebnis einer seit Jahren bewährten Kollaboration zwischen Dr. Karl Böhm, O. F. Schuh (Inszenierung) und dem Bühnenbildner Caspar N e h e r. Dessen imposante Einheitsdekoration — deren Hintergrund zwei schön geschwungene Freitreppen, rechts und links, bilden, die durch eine hochgelegene Balustrade vereinigt werden, wird durch kleine Veränderungen bei herabgelassenem Schlußvorhang zum jeweiligen Schauplatz umfunktioniert. In diesem Rahmen agierten und sangen die besten und bewährtesten Mozart-Sänger der Staatsoper. George London, dämonisch und elegant, gleicht aufs Haar dem großen d'Andrade, wie ihn Max Slevogt als Don Giovanni gemalt hat. Anton Dermota war als Belcantist und Darsteller gleichermaßen vorzüglich. Erich Kunz (Leporello) und Walter B e r r y (Masetto) gestalteten virtuos zwei heikle Charakterrollen. Aus der Maske des Komturs tönte grabestief die Stimme Ludwig Webers. Irmgard S e e f r i e d, anmutig und kokett, brachte als Zerline eine gesunde Brise Landluft auf die Bühne, Sena J u r i n a c als die verlassene Donna Elvira gab ihrem Schmerz wohltönenden Ausdruck und schöne Gebärden. Neu im Ensemble war Lisa Deila Casa, deren schöntimbriertes Organ sich mit noblem Spiel zu vollkommener Einheit verbindet. Kein Wunder, daß jeder aus diesem auch optisch hocherfreulichen Ensemble wiederholt Sonderapplaus erhielt. Die unübertrefflich klangschön und präzis spielenden Philharmoniker und ihr Leiter, der wie in altmeisterlichen Zeiten vom Klavier aus dirigierte und auch die Rezitative begleitete, wurden vor Beginn des zweiten Aktes und am Ende dieser glanzvollen Aufführung laut und lebhaft gefeiert.

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