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Schweizer Reise

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Ein junger Österreicher steht am Abend in Luzern am Strand des Sees. Da drüben klettert die märchenhaft beleuchtete Fontäne in die samtschwarze Kuppel der Nacht, von den Bergen grüßen die Lichtketten der Hotels, träumend wiegen sich die Wellen des Sees. Und leise sagt der Österreicher zu seinem Begleiter: „Man könnte weinen.“ Er kennt es nicht mehr, daß eine Stadt nicht Moloch oder Elendsquartier oder Bombenziel ist, sondern Schönheit. Er war ein Kind, als es das in Österreich noch gab. Er blickt hin zur Stadt: Aus dem Dunkel wachsen die hell beleuchteten alten Stadtmauertürme heraus, der wuditige Wasserturm, die beiden schlanken Spitzen der Hofkirche. Und drinnen in den Straßen wogt freudiges Leben, nein, * es ist keine Maske, man findet hier kein richtiges Elend. Mit geweiteten Augen schlendert der Österreicher durch die strahlenden Straßen, bangen Herzens. Wird es das bei uns daheim überhaupt wieder einmal geben? Ja, Häuser können wir bauen aber nicht frohe Herzen. Und ein frohes Herz wird nicht nur durch äußeren Wohlstand geschaffen ...

Luzern hatte in den letzten Monaten einen ganz besonderen Anziehungspunkt: eine große Schau italienischer Kunstwerke aus der Ambrosiana von Mailand, die erstmalig ins Ausland gebracht wurden. Man braucht kein Kunstsachverständiger zu sein um flber Stil, Schule, Einflüsse und Vorbilder Bescheid zu wissen, unwiderstehlich springt der Schauder vor dem Großartigen auf den ehrfürchtigen Bewunderer über, sei es nun vor der innigzarten „Geburt Christi“ von Baroccio oder dem wild-asketischen Hieronymus von Leonardo da Vinci oder dem großen Karton von Raffael mit dem Entwurf zur „Schule von Athen“ mit den liebevoll ausgeführten Köpfen, oder vor den in leuchtenden Farben strahlenden Handschriften. Und wir, die wir schon lange nur mehr grinsende Not und zerstampftes Leben gesehen haben, wir stehen davor und freuen uns; wir mögen die Werke nicht wissenschaftlich zerpflücken, Auge und Geist Freut sich an diesen begnadeten Formen, kann an ihttsn beseligt ausruhen; Harmonie, selbstverständlich nnd doch herrlich, ist das noch unsere Welt? Vielleicht damals, heute warten auf dich jenseits der Grenze geborstene Bauten, wunde, gequälte Leiber — nicht denken daran, jetzt nur mit trunkenem Ange schauen. *

Irgendwo ein villenhaftes Schweizer Dorf, Bauern, die lebensfreudig ihre Arbeit mn, nicht niedergepreßt von ihr unter den Hammerschlägen der Not, sondern sie sicher meisternd; dabei sind sie doch halbe Städter, im guten Sinne einer städtischen Kultur. Das sind Menschen, die lachen können und so froh sein, daß kein Winkel des Herzens, in dem sich der Gram sprungbereit duckt, im Schatten bleibt, unbestrahlt von der leuchtenden Freude. Bei ihnen kann man die schwingende Fröhlichkeit wieder lernen, wie gern klingt doch diese Saite bei uns Österreichern wieder auf, da sie so lange schweigen mußte. Auch andere Schweizer sind da, das gesunde Gegengewicht, ruhige, schweigsame Eidgenossen, zu denen dieses schwere und feierliche Wort am besten paßt. Und wenn man eine Zeit unter solchen Menschen leben darf, weitet sich die Brust, der Lebensmut und der Glaube an das Gute im Menschen flammen wieder auf. Doch dem gegenüber steht das schöne Bekenntnis -einer Schweizerin: „Warum geht es uns so gut, wir sind ja doch nicht besser als ihr?“ Und in diesen Augenblicken erfühlt man die -erschütternde Wahrheit des Wortes, die uns ohnmächtig niederdrückt: „Geben ist seliger denn nehmen.“ Diese gewaltige Stredte haben sie uns voraus.

Und noch einmal Luzern. Diesmal ganz anders. Kantonale Landwirtschaftsausstellung, mit dem, was dazu gehört- Empfänge, Konzerte, Festzüge, Betrieb. Uber allem könnte das Leitwort stehen: Kraft. Die Kraft, die in den stämmigen Preistieren ruht, die Kraft, die die mächtigen Käslaibe geformt, die Kraft, die das Schweizer Bauerntum beseelt und nun diese, man möchte sagen, wuchtige Schau hervorgebracht hat, die dann aber doch auch fein und genau durchformt ist — nein, nicht rohe, stumpfe Kraft, sondern Kraft des sinnenden Geistes. Daneben aber der schrille Mißton, die Statistik klagt über Landflucht, Rückgang des Bauernstandes und wieder Landflucht. Können auch sie, die viel bessere Vorbedingungen haben, diese würgende Schlinge nicht lösen?

Wieder die Grenze — eilig sucht sich der Geist auf das Kommende umzustellen — wieder österreichisches Land, wieder die Heimatstadt mit ihren zerrissenen Straßen im grauen Spätherbst. Brennend fallen die Unterschiede auf die Seele. Doch nach und nach, immer deutlicher: Das war vor der Abreise nicht so und jenes auch nicht, hier ist es schon viel weiter, da flattert siegreich ein Gleichenbäumchen über einem neuen Dach. Zu weit ist der pessimistische Geist vorausgeeilt. Das Leben pulst wieder, es ringt sich mühsam vorwärts, aufwärts.

Und wir, die wir als kostbarstes Geschenk neuen Lebensmut herüberbringen, dürfen es hier erfahren: Das Leben darf wieder leben!

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