Sorgfältig krank werden

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Vielleicht ist die Wahrheit nichts als Gerücht und Geheimnis, wie es die Texte von Dan Lungu kolportieren?

In Rumänien tut sich was, auch literarisch. Das produktive Chaos des Landes, gepaart mit den Spuren und Ausläufern der kommunistischen Bürokratie, ergibt offenbar die Ausgangsbasis für eine Literatur, die einen Sinn fürs Surreale hat, aber auch für die feine Miniatur - und einen oftmals verzweifelten Humor.

Dan Lungu versteht es, mit Spannungen umzugehen, in Texten, die Gerüchte und Geheimnisse kolportieren, um zu zeigen, dass auch die Wahrheit nichts als das ist. Im Roman "Das Hühner-Paradies" wird vom Interesse an der Fiktion und der Mutmaßung erzählt: "Das Interesse für diese Geschichte hätte sicherlich länger angedauert, wenn der Vater des Kindes nicht ausfindig gemacht worden wäre", heißt es etwa, die Wahrheit (trotz der Sentenz pater semper incertus est) ist hier Fiktion abzüglich der reizvollen Spannung. Dazu sich zu bekennen wäre dialektisch gegen die Spielregel, weshalb es bei aller Lust am Fiktionalen heißt: "Veronica las zuviel." Die Kehrseite ist die Anrede "meistgeliebter Sohn des Volkes" für den "Erschossenen" - hier sieht man die Wahrheit, die nur noch der Fama gehorcht und der Ideologie, wogegen der Tratsch nun fast schon eine Waffe ist, die Anekdote wird zum Antidot. Überhaupt: Wahrheit?

In seinem unprätentiösen Stil voller Humor erzählt der Roman ohne Verächtlichmachung je aus der Perspektive einer Figur. Es sind einfache Menschen, deren ganzes Leben sich in einer Straße in der rumänischen Provinz abgespielt hat. Sie haben Zeit, die sie am liebsten mit Erzählungen in einer Kneipe verbringen, im Erinnern und Streiten: Das Thema ist fast immer die Zeit vor 1989, einmal wütend, dann wieder nostalgisch angegangen, und meist mit "Diesel", nämlich Spirituosen.

Man sagt, was man zu denken hat, egal, was man denkt … Gedanken sind enteignet in diesen Erinnerungen, so haben beispielsweise "Gedanken ja im Allgemeinen keinen moldavischen Akzent." Aber zugleich sind die Geschichten dann von solcher Schräglage und dabei so präzise, dass dahinter gerade so etwas wie Wahrheit denkbar und sogar aktualisiert wird, etwa im schnoddrigen Zusammenfassen der Inhalte pro Kapitel: etwa jenem, worin "Mitu, der Depp der Übergangsgesellschaft, Lichtlein, die Braut der Arbeitslosen, heiratet" - was im Original witziger ist, weil der da gebräuchliche Name Luminita einer der genuin kommunistischen war, Appell an Säkularisation und Aufklärung, an "Gymnastik fürs Volk" und Atheismus. Das Kapitel endet indes mit den Sätzen: "Gott hab sie selig. Zum Wohl!"

Diese Verschränkung von Panne, Ideologie und Menschenwürde wird immer wieder scharf umrissen, wenn sich beispielsweise jemand "sorgfältig darauf vorbereitet, krank zu werden" - das ist Psychologie und Soziologie der Schwebe Rumäniens (und der Autor ist Soziologe).

Die Qualitäten zeichnen auch das Buch "Klasse Typen" aus. Auch hier wird "die scheinbare Entfernung zwischen Fiktion und Realität" ausgemessen, ohne die Postmoderne postambitiös werden zu lassen. Lungu verfolgt Sprachgebräuche, ahmt sie nach, analysiert sie. Auch hier ist eine Kneipe zentral, "Zerissene(r) Anorak" heißt sie. Da geht Lungu in die Hirne und Idiome seiner Protagonisten, aber fragt zugleich durch deren Gestalt: "Was würden Sie an meiner Stelle tun?" Und fragt, wieviel Ironie es brauche, um ein Land zu verstehen und zu ändern, aber nicht zu verraten.

Zweimal wird eine Sehnsucht in Worte gefasst, zweimal in großer Dichte und mit drastischen Bildern. Das Hühner-Paradies ist etwa das Lotophagenglück, worum der Hühnerhalter seine Schützlinge beneidet - "in dem Augenblick wollte ich, dass mir erst Flaum und dann Federn wachsen, dass ich unter der Henne hocke, da wo es warm ist, dass ich klein bin und angefeuchtetes Mehl picke, dass sich ständig jemand wie eine Glucke um mich kümmert und dass ich, wenn es donnert, schnell, schnell unter einen richtigen Flügel zurückhuschen kann." Und zweimal wird gezeigt, dass der Wunsch nicht falsch sein mag, aber auch nicht einzulösen.

So schreibt Dan Lungu große Literatur, der man eben dies oft erst auf den zweiten Blick ansieht.

Das Hühner-Paradies

Ein falscher Roman aus Gerüchten

und Geheimnissen

Von Dan Lungu

Übers. v. Aranca Munteanu

Residenz Verlag, St. Pölten 2007

208 Seiten, geb., € 17,90

Klasse Typen

Kurzgeschichten von Dan Lungu

Übers.v. Aranca Munteanu

Drava Verlag, Klagenfurt 2007

208 Seiten, geb., € 17,90

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