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Von Tirol ins Ruhrgebiet

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In Vorarlberg geht eine nette Anekdote um: Ein Amerikaner war mit dem Schiff irgendwo in Europa angekommen, brachte seinen Kraftwagen an Land und fragte den nächsten Vorübergehenden, wie man nach Vorarlberg komme. Der Gefragte zeigte auf einen Starkstrommast und erwiderte: „Fahren Sie nur der Leitung nach!“ Im großen Industriegebiet des Nordwestens unseres Erdteiles enden die Drähte, die an der Grenze von Vorarlberg und Tirol ihren Anfang genommen haben. Wenn zu den Stunden des Spitzenbedarfes im Ruhrgebiet die Spannung schwächer werden sollte, dann öffnet der Wärter im Lünersee- werk und im Rodundwerk die Zuleitung zu den Turbinen. Und wenn des Nachts die Motoren stillstehen und die Lichter verlöschen, setzt derselbe Mann die riesigen Pumpen ein, und mit billigem Nachtstrom wird das Wasser wieder in den Lünersee hochgepumpt.

Es war zu Beginn des Jahres 1948. Nach Schweizern, Franzosen und Amerikanern kamen wiederum die ersten Österreicher nach Vorarlberg. Sie staunten, was in einer Zeit, da anderswo kein Mut zum Wagnis herrschte, im westlichsten Bundesland geleistet worden war. Geniale Männer wie Landeshauptmann Dr. Otto Ender, der frühere Bundeskanzler, und Dekan Barnabas Fink waren die Initiatoren der Vorarlberger Illwerke gewesen. In Wien fragte man, woher das kleine Land das Geld zum Bau und nachher die Abnehmer für den Strom nehmen werde. Ender und Fink hatten beide Probleme mit einem einzigen Federstrich gelöst: Geldgeber und künftige Stromabnehmer waren dieselben Partner für die Illwerke; wer sein gutes Geld angelegt hatte, war selbst interessiert, daß auch während der Wirtschaftskrise die Turbinen nicht zum Rosten kamen. So fanden die ersten Nachkriegsgäste Vorarlbergs im Montafon unterhalb von Schruns das Rodundwerk, in Partenen am Talschluß das Vermuntwerk, auf 1743 m das Obervewnuntwerk und auf der stolzen Höhe von 2030 m den Silvretta-Stausee mit seinem Inhalt von 38 Millionen Kubikmetern. Man brauchte kein Hochtourist zu sein, um die Anlagen der Illwerke zu besichtigen: man fuhr mit der Werksbahn bis Partenen, mit dem Schrägaufzug nach Tro- minier, mit einer Höhenibahn zum Oberver- muntwerk und weiter mit einem zweiten Schrägaufzug und einer dritten Schmalspurbahn, um vor der zyklopischen Staumauer zu landen. Wo einst das Madlenerhaus in heiliger Bergeinsamkeit gestanden war, erhob sich eine Barackenstadt für fleißige Männer.

Das Erreichte, vor dem Besucher aus aller Welt staunend standen, genügte Generaldirektor Dr. Dipl.-Ing. Anton Ammann nicht. Auf ein Blatt Papier zeichnete er mir seine nächsten Pläne. So sollte der Lünersee auf einer Höhe von 1970 m gefaßt und in zwei Gefällsstufen ausgenützt werden, in einem neuen Lünerseewerk und unten im Rodundwerk. Das Lünerseewerk wurde nicht nur bestimmt, Strom zu erzeugen, sondern mit Pumpen ausgerüstet. So kann Wasser während der Stunden, in denen elektrischer Strom kaum verwertbar ist, vom Tal in den Lünersee hochgebracht und zu Zeiten des Spitzenbedarfes neuerdings eingesetzt werden. Da die Füllung und Leerung des Lünersees in einer Jahresperiode erfolgt, gestattet er den 111— werken und damit der gesamten europäischen Verbundwirtschaft die Überwälzung des Stomes durch volle zwölf Monate. Das Lünerseewerk ist ein einmaliger europäischer Rekord. Es wurde im Jahre 1958 vollendet.

Auf dem nächsten Zettel skizzierte Dr. Ammann die Grenze von Vorarlberg und Tirol. Sie ist eine europäische Hauptwasserscheide. Seit das Urgesteinmassiv der Silvretta in der heutigen Gestalt besteht, fließen die 111 zum Rhein und zur Nordsee, Rosanna und Trisanna, Jam-, Larain- und Fimberbach zum Inn und mit ihm zum Schwarzen Meer. Die Illwerke haben, ohne mit der Weltpolitik in Konflikt zu geraten, für den Ostblock bestimmtes Wasser dem Atlantikpakt zugeführt. Schon münden die meisten der genannten Bäche in den Vermunt-Stausee und vergrößern die Kapazität der Illwerke. Diese Bachüberleitung erbrachte als „Nebenprodukt“ eine Meisterleistung des europäischen Straßenbaues. Die Bauwege wurden in die 25,3 km lange Silvretta-Hochalpenstraße zusammengefaßt. Sie gipfelt auf einer Seehöhe von 2032 m am Silvretta-Stausee, wo sich seit 1956 ein großes Hotel erhebt. Vorarlberg und Tirol sind durch eine neue Kunststraße verbunden, die an den Rand der Gletscher führt. Auf dem Silvretta-Stausee verkehrt ein elegantes Schiff. Wer den Piz Buin, den höchsten Berg Vorarlbergs, besteigen will, kann in Bregenz schlafen und noch am Vormittag die Gipfeltour beginnen. Einziger Mangel: die ausgedehnten Parkplätze auf der Bieler Höhe sind längst überfüllt.

Generaldirektor Ammann langt nach einem dritten Zettel: an der Wasserscheide zwischen Vorarlberg und Tirol liegt das Zeinisjoch. Vor etwa hundert Jahren beschäftigten sich die Planer des Eisenbahnbaues mit jenem Paß. Einen Augenblick lang bestand das Projekt, die Bahn von Tirol nach Vorarlberg das Paz- naun hoch nach Galtür zu führen, das Zeinisjoch durch einen Tunnel zu durchqueren und durch das Montafon nach Bludenz und Feldkirch zu gelangen. Dann gäbe es keinen Arlberg-Express, sondern einen Zeinis-Blitzzug. Das Zeinisjoch kam um seinen Ruhm, heute aber führt die breiteste Straße Vorarlbergs — zwar über Tiroler Boden — vom Silvretta- Stausee nach Zeinis. Das ein9t so stille Touristengasthaus hat Hochbetrieb und ist sogar Endstelle eines Postkraftwagens. Oben leben ständig 900 Mann, darunter 100 Spanier. Nur 120 sind ständig bei den Illwerken angestellt, die anderen kommen aus allen Richtungen der Windrose. Für Unterkunft und Verpflegung ist gut vorgesorgt; es gibt sogar ein eigenes Krankenhaus. Geschafft wird in einem Rhyth mus von 10 Tagen; dann gibt es ein langes Wochenende. Die auf Zeinis eingerichtete Kraftstation könnte eine mittlere österreichische Stadt versorgen.

Der Kops-Speicher, der vor bald zwei Jahrzehnten im Haupte Dr. Ammanns entstand und nun aus dem Boden wächst, wird, wie bei den Illwerken gewohnt, wieder einige Re korde schlagen. Die nach innen gewölbte Bogenmauer besitzt in Europa kein Gegenstück. In die Mauer werden Gänge eingelassen, in denen man die Temperatur sowie Bewegungen bereits von Millimeterausmaß messen kann. Die Mauer wird 120 m hoch und bis zu 30 m breit. Die Staumauer selber wird

450.000 Kubikmeter Beton aufnehmen, dazu kommen die Seitenmauern von 100.000 Kubikmetern. Im August wuchsen scheinbar nur die Stützen aus dem Boden, man hofft aber im Herbst bei der Einbringung von 400.000 Kubikmetern angelangt und, wenn das Wetter gut und keine Störung zu befürchten ist, Ende 1965 fertig zu sein. Dann wird der Kops- Speicher die Wasser aus dem Jam-, Larain- und Fimberbach, die jetzt in den Vermunt- Stausee gehen, aufnehmen und ihre Kraft vom Sommer auf den Winter verlagern. Mit 44 Millionen Kubikmetern Inhalt wird der

Kops-Speicher den Silvretta-Stausee noch überbieten. Der künstliche See wird einen Quadratkilometer groß sein.

Bei der Auffahrt nach Zeinis und Kops werden wir auf eine Stelle aufmerksam gemacht, wo das Erdreich aufgerissen ist. Hier wird der Stollen, der Rosanna und Fasul- bach nach Kops überleiten soll, seinen Ein gang haben. Die beiden Bäche bedeuten neuerdings 41 Millionen Kubikmeter Wasser im Jahr. Der Kops-Speicher soll nicht nur Wasser aufbewahren, nach seiner Vollendung ist in Partenen ein zweites Kraftwerk, das Kopswerk, geplant, welches das von 1809 m über eine Fallhöhe von 779 m herabstürzende Naß auf arbeiten soll. Das Arbeitsvermögen des Kopswerkes wird im Regeljahr 392 Millionen kWh betragen. In einer ferneren Zukunft ist daran gedacht, ein zweites Kopswerk auch in Partenen als Pumpspeicherwerk, so wie das Lünerseewerk, zu bauen, um die Momentanreserveleistung der ganzen Werksgruppe noch zu erhöhen. In Planung steht auch ein Speicher im Kleinvermumttal auf der Tiroler Seite, der auf einer Höhe von 1812 m den Kops-Speicher ergänzen soll.

Zwei Kabelkräne, jeder 900 m lang, gleiten über die Gigantenbaustelle von Kops. Wie von einer unsichtbaren Hand gesteuert, laden sie Material dort ab, wo man es braucht. Es ist, als ob ein fernlenkender Wille über Mensch und Dinge geböte. Diese Fernsteuerung ist keine Telepathie, sondern Funksprechverkehr. Die einzelnen Arbeiterpartien haben Sender und Empfänger. Die riesigen Aufbereitungsanlagen sind derart ausgestattet, daß sie Baustoff zwischen, den Größen von 0,1 mm bis 50 cm sortieren können. Mari wundert sich fa9t, daß eine derart durchdachte Technik noch fast tausend menschliche Arbeitskräfte benötigt.

Vergewaltigung der Natur? Nein, Vallüla, Ballunspitze, Versalspitze, und wie die stolzen Riesen heißen, stehen so ruhig, als werkten Ameisen zu ihren Füßen. Begeisterte Großstädter werden in zwei Jahren eine neue Alpenstraße und eine bisher unbekannte Seilbahn finden, sowie sie von den Illwerken nicht nur die Süvretta-Hochalpenstraße, sondern auch die Straßen ins obere Brandnertal und ins Rellstal, die Seilschwebebahn zum Lünersee sowie die Standseilbahnen auf den Golm und nach Trominier als Geschenk erhalten haben. Wohin ist die Zeit entschwunden, in der das Montafon ein Notstandsgebiet war, das seine Kinder als Hüter ins Schwabenland verkaufte? Heute stehen die schönsten Wohnhäuser, die herrlichsten Schulgebäude Vorarlbergs im gleichen Tale. Die Ortsansässigen gelangten zu Wohlstand, und die Fremden haben ihre Freude.

Auf der Tiroler Seite des Zeinisjoches liegt das liebliche Galtür. Seine Kirche mit den wundervollen Barockaltären wurde in einer Zeit geschaffen, da weder Illwerke noch Gäste Geld ins Land brachten.

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