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Der neue Mensch?

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Walter Faber, tätig bei der UNESCO in Sachen Technische Hilfe für unterentwickelte Länder, macht sich nichts aus Romanen, sowenig wie aus Träumen. Er glaubt auch nicht an Fügung und Schicksal, sondern ist gewohnt, mit den Formeln der Wahrscheinlichkeit zu rechnen. Er braucht keinerlei Mystik; Mathematik genügt ihm. Als Techniker, sagt er, sei er „gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind“ (was aber einer jener billigen Schlüsse zu sein scheint, denen diese Herren öfter unterliegen). Der Mond ist für ihn „eine berechenbare Masse, die unseren Planeten umkreist, eine Sache der Gravitation, interessant, aber wieso ein Erlebnis?“ (Ja, wieso, wenn man keine Phantasie hat und für das, was man philosophisch Spekulation nennt, völlig unbegabt zu sein scheint?) Walter Faber hat auch festgestellt, daß „Gefühle nur Ermüdungserscheinungen sind, wie beim Stahl“. Aber es wäre wohl zu sagen, daß es offenbar etwas Rudimentäres ist, was er unter Gefühl ersteht, etwas Zurückgebliebenes und Unzureichendes, ungefähr das, was einer gerade noch mit der linken Hand zu leisten vermag, wenn er immer nur die rechte trainiert hat. Walter Faber dürfte kaum kompetent sein, über Gefühle zu urteilen, reduziert, wie er in dieser Hinsicht ist und ziemlich unterentwickelt.

Er ist stolz darauf, sachlich zu sein und meint, das sei eben das, was die Frauen nicht vertragen. Frauen wollen Gefühle haben, meint er, und scheint sich auch hierin zu täuschen; denn er. hält für Gefühl, was etwas anderes sein könnte, vielleicht ein Lebenswille, der mit Sentiments nicht allzu viel zu tun hat. Aber weil er für solche Distinktionen kein Sensorium hat, behandelt er die Frauen von oben herab. Er kann sie zwar nicht ganz entbehren, vielleicht der Hygiene wegen oder als Zeitvertreib, aber er hat immer rasch genug von ihnen. „Mehr als drei oder vier Tage zusammen mit einer Frau war für mich, offen gestanden, der Anfang der Heuchelei . .. Lieber Geschirr abwaschen!“ Aber da- sagte er in bezug auf Ivy, und Ivy war ein Mannequin. Man soll von einem Mannequin nicht verlangen, was es nicht leisten kann. Er ist gewohnt, allein zu sein, „wie jeder wirkliche Mann“, bei seiner Arbeit. Wenn ihm drei Tage lang die Arbeit fehlt, wird er unruhig und sehnt sich nach Turbinen. Das kann man verstehen. Turbinen sind berechenbar, Frauen weniger, und was Walter Faber nicht berechnen kann, das geht ihm. gewöhnlich daneben. Vor Turbinen kann er sachlich bleiben, aber Frauen müßte er noch etwas anderes zu bieten haben. Und das hat er nicht. Wenn er aber versucht, etwas mehr zu bieten, wird er peinlich. Wie auf der Fahrt zurück nach Europa. Da vergafft sich nämlich der Fünfzigjährige unversehens in ein blutjunges Ding. Das ist nicht gerade „sachlich“, denn was will so ein älterer Herr mit einem jährigen Mädchen?

Zunächst will er zwar nicht viel, er hat eben nur zuviel Zeit und keine Turbinen in der Nähe, und wenn nicht ein „Schnäuzchenfreund“ um Sabeth herumgestrichen wäre und besser Pingpong gespielt hätte als er, dann wäre aus allem gar nichts geworden. Aber es pikierte ihn, den älteren Herrn (der es bisher nicht nötig gehabt hatte, den Frauen nachzulaufen), daß der „Schnäuzchenfreund“ bessere Chancen hatte, und er wurde wütend, als ein „Baptist“ mit Sabeth über den Louvre reden konnte, von dem er nichts verstand. Es mischten sich also Ressentiments ins Spiel. Er kam sich plötzlich senil vor, und von da an liefen die Affekte.

Wir wollen sie hier nicht weiter verfolgen. Wir wollen nur zusammenfassend sagen, daß es zur Liaison kam, dann zur Liebe mit voraussehbaren Folgen und dann zur Katastrophe. Denn es stellt sich allmählich heraus (was der Leser etwas früher erfährt als Walter Faber), daß Sabeth seine eigene Tochter ist, eine Tochter, von der er aber gar nichts wußte. Also Inzest. Das Mädchen stirbt dann an einem Schlangenbiß, und er siecht kurz darnach an einem Magenkarzinom dahin. Vorher aber erscheint noch die Mutter des Mädchens auf der Szene und schlägt ihn mit den Fäusten ins Gesicht. Das ereignet sich in Athen, wo offenbar noch immer Nemesis umgeht, jene Tochter der Nacht, die Hybris zu bestrafen hat. Infolgedessen sind wir unversehens in die Gegend einer sophokleischen Tragödie geraten. Aber wir wollen das hier unberücksichtigt lassen, denn es wäre zu vieles dafür und dawider zu sagen, und wir haben hier nicht genug Raum. Es dürfte vielleicht genügen, zu bemerken, daß man eben keine Gefühle haben sollte, wenn man Walter Faber heißt, denn darauf versteht man sich nicht; man sollte sich auch nicht verlieben, weil man ja doch nie begreifen wird, was Liebe ist; man sollte kein Homo sapiens sein wollen, wenn man nur Homo faber ist und unterentwickelte Länder in sich hat, die man veröden ließ. Es kommt nur schief heraus. Man merkt ja nicht einmal, daß Sabeth nur einen Vater sucht und keinen — nun, wie soll man sagen? Man ist so blind, viel blinder als Oedipus, und hat so schwach entwickelte Instinkte und ist ein solcher Durchschnittsknabe oder — wie Bodamer sagen würde — ein „Mann ohne Eigenschaften“, der wie Marlene Dietrich sagen konnte: „Ich kann halt eines nur und sonst gar nichts.“ Dementsprechend ist ja auch die Ausdrucksweise: salopp, kupiert und ohne Timbre, die Diktion eines intellektuellen Spießers, der immer versagt, wo die Turbinen aufhören und etwas anderes beginnen müßte. Ein peinliches Individuum! Max Frisch hat.es verstanden, uns dessen Dürftigkeit vor Augen zu führen. „Homo faber“ ist jedenfalls der bemerkenswerteste Roman seit Jahren.

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